In matrilinearen Gesellschaften schlummern Möglichkeiten zur weiblichen Selbstermächtigung.

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Manch frustriertem Mann, der durch die feministischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte seine Privilegien entschwinden sieht, mögen Albträume von einem Matriarchat die Nachtruhe rauben. Schließlich haben jahrtausendelang Männer nur deswegen eine Position besetzt, weil sie Männer waren, und nun soll das plötzlich nicht mehr gelten.

Wer von Müttern, Großmüttern und Tanten umhegt wird, von Babysitterinnen beaufsichtigt, von Hortpädagoginnen betreut, von Lehrerinnen ausgebildet, von Psychologinnen und Therapeutinnen an die gesellschaftlichen Anforderungen angepasst, der könnte spielend als Kind die Überzeugung gewinnen, dass auf der Welt nur Frauen bestimmen, wo es langgeht.

Gefürchtetes Matriarchat

Wer bei Bewerbungen wegen der Konkurrentinnen übergangen wird, wer bei Karrieresprüngen einer Geschlechterquotenregelung zum Opfer fällt, wer sich von Richterinnen, Anwältinnen und Gutachterinnen in einem Scheidungsprozess benachteiligt und in seinen Vaterrechten beschnitten sieht, kann schon einmal zu der Befürchtung gelangen, dass er in einem Matriarchat gelandet ist, allen Statistiken über Geschlechterasymmetrien bei Führungskräften, Gehältern, Gewaltverbrechen und der Verteilung von Haushaltsarbeiten zum Trotz.

Indes, der Mann irrt. Zu keiner Zeit und an keinem Ort der Welt gab es – nach gegenwärtigem Forschungsstand – eine Machtkonstellation, in der Frauen oder Mütter (lat. mater – Mutter, altgr. archein – herrschen) geschlechterexklusiv die politische Macht innegehabt hätten. Nie und nirgends gab es – in einer Art spiegelverkehrtem Patriarchat – in aller Selbstverständlichkeit, die niemand zu hinterfragen auf die Idee gekommen wäre, ausschließlich weibliche Entscheidungskompetenzen, Spitzenkräfte und Beraterstäbe.

Das Kommando über das Kapital

Dann und wann allerdings schoben sich einzelne Frauen in den Vordergrund – oder sie zogen als unsichtbare Eminenzen im Hintergrund die Fäden. Wenn im Verlaufe der Geschichte am hierarchischen Gipfel mitunter eine weibliche Besetzung die männlich konzipierte Ordnung störte – Kleopatra, Maria Theresia, Indira Gandhi, Angela Merkel –, so war deswegen noch lange keine Gynaikokratie ausgebrochen. Diese Frauen trugen deswegen die Krone, weil gerade kein Mann da war, dem man sie hätte aufsetzen können.

Ebenso ist es in der Ökonomie. Das Kommando über das Kapital ist männlich. Allenfalls auf familiärer Ebene entscheiden Mütter über das Haushaltsbudget und die Produktionsmittel. Eine Herausforderung für maskuline Dominanz in den Chefetagen war in der Vergangenheit gegebenenfalls das Erbrecht, wenn nicht nur Söhne, sondern auch Töchter nach dem Tod der Eltern Zugriff auf Geld und Güter erlangten.

Keinesfalls sollen hier die weiblichen Leistungen negiert werden, es besteht kein Zweifel, dass Frauen in vielfältigen Formen die Lebensbedingungen an allen Orten und zu allen Zeiten wesentlich geprägt haben. Vielleicht das herausragendste Beispiel für großen weiblichen Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten – nicht nur vom Hintergrund aus als Schattenherrscher, sondern ganz offiziell – liefert die Haudenosaunee-Konföderation (besser bekannt unter der Fremdbezeichnung Irokesen).

Kooperation statt Herrschaft

Diese leben in Reservaten in den USA und Kanada und gliedern sich in matrilineare Clans, denen eine Frau vorsteht. Die Clanmütter ihrerseits bestimmen Chiefs (und können sie auch absetzen). Es sind die männlichen Chiefs, die die Bevölkerung in lokalen und nationalen Räten vertreten und – in enger Kooperation mit den Clanmüttern – die Angelegenheiten der Gemeinschaft regeln. Aber das ist etwas anderes als ein Matriarchat.

Die Fantasie von einem solchen kam von links in die Welt, entstammt einer evolutionistisch orientierten Anthropologie, wurde von Johann Jakob Bachofen über den Sozialanthropologen Lewis H. Morgan und über Friedrich Engels und das historisch-materialistische Welterklärungsmodell in die sozialwissenschaftliche Literatur eingeschleust.

Matriarchale Idee als Mythos

Genau genommen ist die matriarchale Idee ein patriarchaler Mythos, erfunden von Männern zum Trost und als Ausgleich. Der Mythos ist eine Entschädigung für Frauen, weil sie durch die Jahrhunderte von politischen und ökonomischen Entscheidungspositionen ferngehalten wurden. Hauptsächlich ist er ein geniales Ablenkungsmanöver, erdacht zum Zwecke des maskulinen Machterhalts. Leider sind Frauen auf die Lüge hereingefallen. Sie entdeckten das Märchen für sich, seither tragen sie es durch die Welt und funktionierten es um zum feministischen Traum. So wurde eine im Grunde romantische Verklärung zur emanzipatorischen Illusion. Sie bekam auch in der feministischen Anthropologie einen festen Platz zugewiesen – wobei die Idee einer Mutterherrschaft transformiert wurde, zeitweise als Mutterrecht auftauchte und heute unter dem Begriff Matrilinearität diskutiert wird.

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Mythen, Märchen und Lieder

In der Literatur finden sich konstruktivistische Interpretationen von Geschlecht, die Weiblichkeit mit gesellschaftspolitischer Macht verkoppeln, zuhauf. Begonnen hat es vielleicht mit den Amazonen, die sich als Kriegerinnen und Stadtgründerinnen bei antiken Autoren einen Namen gemacht haben. Auch sie sind ein Mythos, wenn auch keine ganz freie Erfindung, denn gewoben wurde er um einen historisch fassbaren Kern. Die berühmteste der Amazonenköniginnen, Penthesileia, eilte dem König von Troja gegen die griechischen Angreifer zu Hilfe und wurde dabei getötet, natürlich von einem Mann, es war Achill.

Die Bezeichnung "Amazone" wurde schon bei griechischen und römischen Historikern und Dichtern als ethnischer Begriff geführt, aber eine archäologische Entsprechung für solche von Frauen geleitete Herrschaftsgebiete wurde bisher nicht entdeckt. Was es jedoch zahlreich gibt, sind Gräber von Kriegerinnen, jedenfalls von Frauen mit Waffen als Grabbeigaben, teils mit Hieb- oder Stichverletzungen am Skelett. Es besteht die These, dass der Amazonenmythos verknüpft ist mit matrilinear und/oder matrilokal organisierten Bevölkerungsgruppen in der Schwarzmeer-Region, mit denen die griechischen Zivilisationen schon in vorhomerischer Zeit kriegerische Kontakte pflegten.

Yin und Yang

Auch Ausgleichsvorstellungen zwischen dem männlichen und dem weiblichen Element waren und sind in vielen Gesellschaften weitverbreitet; in Mythen, Märchen, Liedern, Volksgut wird die Polarität und/oder Komplementarität der Geschlechter betont. In der chinesischen Philosophie des Daoismus äußert sie sich im weltanschaulichen Prinzip von Yin und Yang. In vielen Religionen findet man eine geschlechtsspezifische Zweiheit etwa von Himmel und Erde (Vater Himmel und Mutter Erde), männliche Weltenschöpfer und Fruchtbarkeitsgöttinnen. Im Katholizismus wurde die Dualität von Gott Vater und Mutter Kirche konzipiert.

Vorchristliche Muttergottheiten leben noch fort in der Marienverehrung der Kirchen. Marienkult war allerdings zu keiner Zeit ein wirklicher Gegenpol zur viril konzipierten Gottesidee, die Himmelskönigin ist und bleibt dem Allesbeherrscher beigeordnet; sie ist ihm nicht ebenbürtig. Sie kümmert sich um die kleinen Sorgen der Menschen, während ER für das große Ganze verantwortlich zeichnet – wie es die binär-hierarchische Geschlechterordnung auch in den irdischen Gefilden vorsah, im Himmel wie auf Erden. Deswegen konnte Ludwig Feuerbach so schön fabulieren: Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.

Das große Missverständnis

Nichtsdestotrotz geistert die Idee eines Matriarchats immer wieder durch Bücher, Magazine und digitale Netzwerke, besonders an Frauengedenktagen. Auch wenn noch so viele Webseiten dergleichen Inhalte transportieren, sind sie deswegen noch nicht gesichertes Wissen. Vielleicht ist aber auch alles nur ein großes Missverständnis. Denn was man sehr wohl in Vergangenheit und Gegenwart findet, sind Verwandtschaftssysteme, in denen Neugeborene der mütterlichen Linie zugeordnet werden und in denen Eigentum und sozialer Status unilinear nach dieser weitergegeben werden (Matrilinearität) – im Unterschied zu einer unilinear nach der väterlichen Seite ausgerichteten Deszendenz (Patrilinearität).

Demgegenüber rechnen beispielsweise westliche Gesellschaften sowohl nach der mütterlichen wie nach der väterlichen Hälfte (bilateral oder kognatisch); jedoch dominiert der männliche Teil, was sich etwa in der Verwendung des Patronyms zeigt, indem Frauen bei der Heirat den Namen des Ehemannes und Kinder bei der Geburt den Namen des Vaters erhalten. Das Deszendenzsystem beeinflusst auch die Wahl des Wohnortes bei einer Hausstandsgründung (postnuptiale Residenzregeln). Bei matrilinearer Abstammungsrechnung zieht ein jung verheiratetes Paar gewöhnlich zur Familie der Frau, in ihr Dorf oder in die Nähe eines ihrer Verwandten (uxorilokale Wohnfolge).

Marginalisiertes Dasein

Viele der matrilinear organisierten Gesellschaften führen in eher kleinen Gruppen in versteckten Winkeln der Welt ein marginalisiertes Dasein. Die größte zählt mehr als drei Millionen Menschen; sie nennen sich selbst Minangkabau und leben auf der indonesischen Insel Sumatra. Auch zwei bis drei Millionen Tuareg, deren Wohngebiete in mehreren Ländern Nord- und Westafrikas liegen, weisen in ihren Sozialorganisationen matrilineare Elemente auf. Sowohl Minangkabau wie auch Tuareg sind Muslime, in ihren Lebensräumen haben zudem Kolonialmächte – Niederlande im einen Fall, Frankreich im anderen – ihre Organisationsstrukturen und Ideen hinterlassen, sie stehen also seit langem in mehrfacher Hinsicht unter dem Einfluss patriarchaler Systeme.

Es sind jedoch auch in solchen Gruppen nicht die Frauen, die den Ton angeben, sondern Männer, bloß ist es halt weniger der Ehemann und der Vater wie bei patrilinearen Deszendenzgruppen. Der starke Mann ist der Mutterbruder (lat. avunculus – veraltet: Oheim, im Gegensatz zum Vaterbruder, dem Onkel). Er nämlich – und nicht der Genitor – übernimmt gewöhnlich die soziale Vaterrolle gegenüber den Kindern seiner Schwester, während die biologischen Kinder eines Mannes vom Bruder seiner Ehefrau bevatert werden. Es sind Männer, die Entscheidungen über Angelegenheiten der Gemeinschaft treffen, die die exekutive Macht und die Kontrolle über Ressourcen (Land, Vieh, Wasser) innehaben.

Mutterbruder als starker Mann

Die Mann-Kind-Beziehungen sind auch bestimmend in der Rechtsnachfolge. Vererbt wird im Allgemeinen nämlich nicht, wie man jetzt vielleicht erwarten würde, von der Mutter auf die Töchter. Im Avunkulat verwaltet der Mutterbruder das Eigentum der Familie, und er gibt es nicht an seine eigenen Nachkommen weiter, sondern an seine Schwesterkinder. Eine Person erbt also nicht vom Genitor, sondern vom Oheim. In der nächsten Generation übermitteln die Schwestersöhne ihrerseits Kapital und Güter wieder an die Kinder ihrer Schwester. Dadurch wird Eigentumszersplitterung verhindert, weil Land und Kapital in der Matrilinie bleiben. Es kommt vor, dass etwa bewegliche Güter wie Schmuck, Kleidung, Waffen von der Mutter an die Töchter vermacht werden oder vom Vater an seine biologischen Kinder.

Bei den Tuareg ist Land im Kollektivbesitz, vererbt werden Nutzungsrechte. Die Rechtsnachfolge wird je nach Region unterschiedlich gehandhabt, unterschiedlich auch, ob es um Weideland, Oasengärten, Pachtverträge, Zelte, Tiere oder bewegliche Güter geht, jedoch wird häufig in der Weitergabe an die nächste Generation eher die Matrilinie bevorzugt, jedenfalls ist deutlich eine Matrifokalität erkennbar. Dies widerspricht dem islamischen Recht, wonach ein Erblasser oder eine Erblasserin alle Kinder bedenkt. Daher wird es durch Schenkung zu Lebzeiten umgangen.

Das alles ist noch viel komplexer, als es hier den Anschein hat, und auch nicht immer so eindeutig; es gibt eine große Variationsbreite möglicher Beziehungen, mehrere Geschwister, große Lokalverbände, individuelle Regelungen. Auch bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen einzelnen matrilinear strukturierten Gruppen. Generell sind sie jedoch charakterisiert durch größere Egalität zwischen den Geschlechtern und auch durch höhere Scheidungsraten. Zuweilen entstehen Rollenkonflikte zwischen den beiden Vätern, dem biologischen und dem sozialen (Mutterbruder), die sich in Auseinandersetzungen um Autorität niederschlagen. Daher gibt es oft Spannungen in den Familien, wenn der Mann im Haushalt, in dem er wohnt, gegenüber seiner Ehefrau und seinen Kindern und eventuell vorhandenen anderen Familienmitgliedern in häuslichen Belangen wenig zu sagen hat, andererseits, im Haushalt seiner Schwester zwar Einfluss hat, aber wenig Einblick in die Geschehnisse, weil er ja nicht dort lebt, gleichzeitig aber Sozialisationsaufgaben bei den (Schwesterkindern) Neffen und Nichten übernehmen muss.

Ingrid Thurner ist Kultur- und Sozialanthropologin sowie Publizistin im Bereich Wissenschaftskommunikation. Zuletzt erschien: "Anderssein und Andersmachen. Über Diversitäten, Diskriminierungen und Dummheiten". Löcker-Verlag, Wien 2021.
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Weibliche Ermächtigung

Allerdings schlummern in matrilinear organisierten Gesellschaften offensichtlich auch beträchtliche Möglichkeiten zur weiblichen Ermächtigung, wie die US-amerikanische Ökonomin Sara Lowes herausfand, die durch ungewöhnliche Forschungsprojekte aufgefallen ist. So hat sie im sogenannten matrilinearen Gürtel Afrikas demografische und gesundheitsbezogene Daten aus 14 Ländern südlich der Sahara analysiert, die auch Befragungen von 400.000 Frauen beinhalten. In einem 2022 veröffentlichen Paper hält sie fest, dass in matrilinearen Gesellschaften Frauen seltener häusliche Gewalt für gerechtfertigt halten, dass sie weniger häusliche Gewalt erleben, dass sie über größere Entscheidungsfreiheit verfügen, etwa für Familienbesuche und für die Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgung. Hinzu kommt, dass die Bildungslücke zwischen männlichen und weiblichen Nachkommen geschlossen wird und dass die kindliche Gesundheitssituation besser ist.

In der sozialanthropologischen Literatur, die Deszendenzsysteme, Heiratswohnfolge und Erbrecht in einzelnen Gesellschaften in aller Welt thematisiert, besteht weitgehend Konsens, dass matrilineare Kulturelemente abnehmen und patrilineare zunehmen. Als Ursachen werden genannt: Einflüsse in der Kolonialzeit, Religionen wie Christentum und Islam, Außenbeziehungen der Männer, Migration.

Es wird dann also einmal mehr an den Frauen liegen – und vor allem an den Müttern, die Söhne erziehen –, ob matrilineare Strukturen fruchtbar gemacht werden können für das demokratische Ideal eines geschlechtersymmetrischen Miteinander. (Ingrid Thurner, 12.5.2023)