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Sie ist eine ganz besondere Autorin, die in Lyon aufgewachsene Deutsch-Französin Sylvie Schenk, die seit über 50 Jahren in Deutschland lebt und ihre autofiktionalen Romane auf Deutsch verfasst. Vielleicht ist ihre Sprache deshalb so poetisch, so voller neuartiger, nicht abgedroschener Bilder. Sie hat Deutsch erst erlernt, als sie ihrer Jugendliebe, einem frankophilen Pharmaziestudenten, in seine deutsche Heimat folgte, und auch zunächst nur über die deutsche Literatur, die sie liebt.

Leichtigkeit und Schwere

Deutsch wird ihre "Fremd- und Liebessprache", so sehr fasziniert sie das Funkeln dieser Sprache, ihr "nie aufhörendes Feuerwerk". Bittere Ironie ihres Lebens ist, dass ihr Mann, der sie wegen ihrer vermeintlichen "französischen Leichtigkeit" geheiratet hat, sie wegen ihrer dann zutage tretenden "deutschen Schwere" verlässt ... "Ihr ganzes Leben ist zwischen zwei Länder geglitten", so ihre Bilanz.

Die Geschichte ihrer französischen Großfamilie war ihr von Anfang an literarisches Thema, in Eine gewöhnliche Familie hat sie schon 2018 die Abgründe ihrer Familiengeschichte dargestellt, Familie als "Wiege, Gefängnis, Giftschrank und Hafen" beschrieben. In ihrem neuen Buch nun versucht sie in kurzen polyphonen Kapiteln, in denen auch ihren Geschwistern eine Stimme gegeben wird, dem Geheimnis, das das Leben der Mutter und ihrer Kinder verdüstert hat, nachzuspüren, die Leerstelle zu füllen und ihr, die als Adoptivkind unklarer Herkunft ein Leben lang unter der Ausgrenzung und Diskriminierung vor allem durch die großbürgerliche Familie ihres Mannes gelitten hat, gerecht zu werden, ihre Biografie quasi zu restaurieren.

Sylvie Schenk, "Maman". Roman. € 22,70 / 176 Seiten. Hanser, München 2023Momente von Zuneigung: Sylvie Schenk. Foto: Peter-Andreas Hassiepen.
Hanser

Lebenslanger Schmerz

Die Tochter hat früh gespürt, dass das Rätsel um ihre Herkunft das Leben ihrer Mutter ausgehöhlt hat, wie eine Art "mittelalterliche Tropfenfolter". Diese besondere Recherche unternimmt die Tochter nicht als larmoyante Selbstbefragung eigener Beschädigungen, sondern als eine Hommage an Generationen ausgebeuteter und diskriminierter Lyoner Seidenarbeiterinnen, die nur halb so viel verdienten wie die ebenfalls ausgebeuteten Männer und gezwungen waren, sich zu prostituieren, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Das Elend der Lyoner Seidenarbeiter hat 1831 zur ersten sozialen Revolution der Industriegeschichte geführt, der Aufstand der "Canuts" wurde blutig niedergeschlagen, ihr Gedächtnis in der Melancholie eines revolutionären Liedes bewahrt:Les canuts. Die Autorin widmet ihren Text, den sie approximativ nennt, nun ihrer Mutter als der Tochter und Enkelin ebendieser Seidenarbeiterinnen aus Lyon. Die Großmutter, die mit 13 in die Seidenfabrik gehen musste, war bei ihrer dritten ungewollten Schwangerschaft bei der Geburt gestorben, das Kind, Renée, die Wiedergeborene, kommt nach sieben Monaten in der Abteilung für verlassene Kinder zu einer armen Bauernfamilie in der Ardèche.

Unbekannte Herkunft

Es ist ein "placement douteux", eine zweifelhafte Unterbringung, die wie durch ein Wunder im Alter von sieben Jahren durch eine Adoption durch ein liebevolles Ehepaar beendet wird. Aber die frühkindlichen Schädigungen des "Hurenkindes" sind groß, es spricht kaum, wird vor allem in der Schule als Idiotin gehänselt und gequält, kann seinen Platz im Leben nicht finden trotz der großen Liebe seiner Adoptivmutter zu ihm.

Überdies hat sie, die 1916 mitten im Ersten Weltkrieg geboren wurde, verdächtig veilchenblaue Augen und blonde Haare. Anlass zu "on dits", Gerüchten und Verdächtigungen. Sie wird ein Leben lang so wirken, als habe man ihre Seele und ihren Körper zum Schweigen gebracht. Sie wird nie erfahren, woher sie kommt. Sie bleibt eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren kann, die Leerstelle ihrer Herkunft bleibt ein lebenslanger Schmerz. Die Adoptiveltern arrangieren eine Heirat mit dem Sohn einer befreundeten Familie, einem künftigen Zahnarzt. Als bei der Unterzeichnung des Ehevertrags herauskommt, dass Renée nur adoptiert ist, ist der Eklat da, sie ist "enttarnt": "Man weiß ja doch gar nicht, woher sie kommt! Ein Straßenkind! Ihre Mutter könnte eine Hure gewesen sein!" Vor allem die "böse Schwiegermutter" wird ihr das Leben schwermachen.

Luftiger Sarg aus Worten

In ihrer freudlosen Ehe wird "Maman" sechsmal schwanger, fünf Kinder kommen zur Welt, drei der Töchter werden später ungewollt schwanger und deshalb verlassen, der Familienfluch scheint zu wirken, die Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben. Als Mutter bleibt Renée distanziert bis abwesend, stets darauf bedacht, keine Fehler zu machen in den Augen der reichen Verwandtschaft, vergraben in ihr Strickzeug, an dem sie sich festhält, mit dem allein sie für sich Lebendiges erschaffen kann.

Nach ihrem Tod wird sich die rebellische Tochter einspinnen in das Familiengewebe aus Verschweigen, Verdrängen und Schuld und all den Fragen nachspüren, die die Familiengeschichte offengelassen hat, denn "Familie ist das Land, aus dem man kommt", so die Autorin im Interview, und "Text", wie sie ihr von Sentimentalitäten unverstelltes Bild der Mutter nennt, verweist auf "textil" ...

Sylvie Schenks Kunst besteht darin, dieser unscheinbaren, fast wesenlosen Mutter "einen luftigen Sarg aus Worten" zu machen, sie durch ihr Schreiben aus dem Nichts zu retten. Schon die zärtliche Anrede "Maman" zeigt, dass Sylvie Schenk ihrer Mutter, dieser lebenslang ungeliebten Frau, die immer fror, ein Denkmal setzen, ihr Momente von Zuneigung und Zärtlichkeit schenken möchte. Sie macht ihr sogar ein ganz besonderes Abschiedsgeschenk: Aus dem Familiengerücht, einmal habe die Mutter den Ehering versetzt und den ewig gleichgültigen Vater verlassen, webt und erdichtet sie ihr eine Liebesgeschichte, die sie einmal sich selbst spüren lässt, sie einmal wirklich wiedergeboren sein lässt in einem Du, einem Mann, der sie erkennt. (Barbara Machui, 13.5.2023)