Sabine Scholl, geb. 1959, lebt als Schriftstellerin in Wien. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Die im Schatten, die im Licht" (Wessbooks, 2022).

Foto: Sabine Scholl/Privat

In Rahmen gespannte Wollfäden, Tapisserien, geflochtene Seile, aus Fetzen gefertigte Wesen. Auf der Biennale in Venedig mustere ich Werke, deren Materialien mir von Kind an vertraut sind: Gewebe, Fäden, Perlen, Gestricktes, Gesticktes, Nähte, Fransen, textile Schichten. Meine Finger wollen danach greifen, weil sie mich ergreifen. Im polnischen Pavillon bewundere ich die aus buntgemusterten Altkleidern und Stoffresten gefertigten Wandbehänge, mit denen die meterhohen Wände zur Gänze bekleidet sind, von der Künstlerin gemeinsam mit Roma-Frauen ihres Dorfes genäht.

Ein von meiner Mutter gefertigtes Stoffbild kommt mir in den Sinn, Schneewittchen mit den sieben Zwergen, an der kalten Mauer des ungeheizten Kinderzimmers. Das Schmerzhafte ist, die Verbindung zur eigenen Herkunft zu kappen, bemerkt die Kuratorin des Pavillons. Indem die Roma-Frauen, die diese Tapisserien geschaffen haben, stolz auf ihre Fähigkeiten sind, werten sie sich selbst auf und schaffen sich einen Rückhalt.

Was bleibt?

Was habe ich eigentlich verloren, indem ich den Ort verlassen habe, an dem ich aufwuchs? Was blieb von Mutters Nähkünsten, den strickenden Omas und häkelnden Tanten? Ich inspiziere die Nähnadel, die noch im Wandteppich des Pavillons steckt. Die Kleider, die meine Mutter mir nähte, sind längst verschwunden. Ich besitze nur mehr ein paar Fotos. Doch wo ist der Geist dieser Gewänder? Was ist ihre Bedeutung?

Über Fäden und Mutters Finger, die das Material bearbeiteten, berührte sie mich. Ansonsten kaum Umarmungen oder Liebkosungen. Nur im Zuschneiden, Anheften, Zurechtrücken und Abstecken kam ihr Körper dem meinen nahe. Später das Bewundern ihres Werks, wenn ich im Kleid steckte, in dem sie mich in die Welt schickte als Beweis ihrer Fähigkeit. Als Trägerin ihrer Kreationen wurde ich veröffentlicht. Und Vater hat mich fotografiert.

Tröstliche Stoffe

Stoffe sind tröstlich. Sie zu berühren bietet die Voraussicht auf Wärme, eine Möglichkeit, sich zu kleiden, zu verhüllen, zu verwandeln. In ihrem Geruch materialisiert sich die Erwartung eines besseren Seins. Das dumpfe Geräusch der schweren Ballen, wenn sie aus dem Regal gezogen werden, leichter Staub steigt auf, wenn sie auf den Ladentisch knallen, die Geschicklichkeit der Verkäuferin, die den Stoff Drehung für Drehung vom Ballen zerrt, das Ratschen der Schere und ein Seufzen, bevor sie angelegt wird, kurzes Zögern, weil der Schnitt unabänderliche Tatsachen schaffen wird.

Diese freie Wahl des Stoffs bildet eine seltene Gelegenheit. Meist gehen dem langwierige Überlegungen voraus, Farbe, Stärke und vor allem der Preis werden geprüft. Deshalb ist der Akt des gerollten Stoffballens das Besondere. Das Übliche besteht im Wühlen in Kisten mit Resten und Abschnitten in unmöglichen Maßen, Muster, die keinem wirklich gefallen. Liegengebliebenes und Verschnittenes.

Dorthin begibt sich Mutter, kramt und überlegt, welches Potenzial darin liegt, kauft auf Vorrat, baut sich ein Lager in ihren Schränken. Als mein Körper noch nicht nach großen Flächen verlangt, arbeitet sie geschenkte Erwachsenenkleidung um. In einem gebrauchten Damenkleid ist ein Mädchengewand plus Rock oder Jacke enthalten. Stoff wird zur Metapher für das Mögliche.

Kleider auf Papier

Sobald ich das begreife, will ich es selbst tun. Als Kind habe ich diese Vision, Textilien durch Papier zu ersetzen, um Kosten zu sparen. In Gedanken entwerfe ich Wunschkleider mit dem festen Vorsatz, sie tatsächlich zu erzeugen. Ich träume, das raschelnde, halb durchsichtige Schnittpapier, welches der Skizzierung auf dem Stoff dient, dafür zu verwenden. Das Sinnieren darüber, was ich tragen könnte, ist Ersatz für den Besitz.

Dieser Wunsch zeigt mir den Weg, auf Papier und mit Papier meine Welt zu verändern. Der Prozess des Schreibens ist dem des Nähens durchaus ähnlich. Der Stoff meiner Texte fliegt mir bis heute zu, geschieht mir. Eine weiche Erzählung.

Verbindung zur Welt

Papier bleibt mein Begleiter. Die zu nähenden Modelle werden in Zeitschriften abgebildet, zusammen mit Schnittbögen, Orientierungskarten mit Wegen in verschiedenen Farben, die ich nachfahren darf, aufs transparente Papier pausen, und ein Ärmel wird daraus, ein Kragen, eine Blende. Wir schwelgen. Mutter verwendet Fachvokabular, das ich lerne zu verstehen, weil es mir Gelegenheit gibt, auf sie zu reagieren.

In Zeitschriften für Kinder, die ich mir erbettle, finden sich Umrisse von Mädchenkörpern zum Ausschneiden. Dazu Kleidung mit weißen Laschen an den Rändern, um sie zu befestigen. Ich muss keine Stoffe aneinanderlegen, nicht heften, nicht nähen, sondern sorge für sofortiges Verwandeln. Kleidung öffnet und schließt meine Verbindung zur Welt.

Materie statt Gefühl

Material Love, nennt eine Freundin diese Beziehung, als ich ihr von Kleidern, die Mutter für uns Kinder nähte, erzähle. Materie ist das Gegenständliche, das statt dem Gefühl gesetzt wurde, das ich vermisste. Dann erzählt die Freundin von ihrer Mama, genauso ein Kriegskind. Weil ihre alleinstehende Erzeugerin nicht mit dem Nachwuchs zurechtkam, wurde das Mädchen ins Heim gesteckt und später zur Alkoholikerin.

Sie unternahm mehrere Versuche, sich umzubringen. Wir sind beide Töchter unglücklicher Frauen, deren Stimmen stumm gemacht wurden. Aus Not. Später schickt die Freundin mir ein Foto, ein Kunstwerk, wie sie sagt. Ich blicke auf eine Jacke aus braungrauem Wollstoff, tailliert, mit bauschigen Ärmeln. Über und über bestickt mit Schriftzeichen in schwarzem Garn.

Das war die Arbeit, die die Näherin Agnes Richter, nachdem sie Anfang des 20. Jahrhunderts in der Psychiatrie gelandet war, unablässig ausführte. Der textile Untergrund der Jacke diente ihr als Tagebuch. Mit ihrer Nähnadel notierte sie, was sie in ihrer Verlorenheit noch von sich selbst wusste. Die Ärmel, die Vorderseite, die Rückseite der Jacke sind mit diesen Zeichen der Selbstvergewisserung bestickt, die Leserichtung von links nach rechts, die horizontalen Zeilen hat die Näherin eingehalten. Textilien sind Zeichen der Zuneigung, der Sorge, Mittel zur Verständigung und Selbstbestimmung. Meine Mutter schrieb sich in die Kleidung ein, die sie für uns anfertigte, um nicht völlig zu verschwinden.

Das Hasenkostüm, das Sabine Scholls Mutter in den 1960er-Jahren für ihre Tochter nähte.
Foto: Sabine Scholl/Privat

Erinnerungen in Stoffform

Es gibt dieses Foto von mir, als Hase verkleidet. In den aufgereckten Ohren stecken Drähte, und meine Brust besteht aus hellem Samt. Meine Finger in Pfotensäcken festgebunden, hocke ich vor einem Fichtenzaun. In der hinteren Naht ist ein weißes Schwänzchen befestigt. Ich bin ein Hase, weil meine Mutter das so will. Das Kostüm ist das einzige Stück aus ihrer Hand, das ich noch besitze.

Ich zerre den jahrzehntealten braunen Stoff aus meinem Schrank. Die Gummibänder an den Ärmeln sind inzwischen unbeweglich, der rote Zipp ist zu lang, hängt zwischen den Beinen im Inneren des Kostüms. Ich fahre mit den Fingern langsam über den weichen, eierschalenfarbenen Samt des Brustteils. Prüfe die Baumwollschnur in der Mitte des Kostüms. An alles hat Mutter gedacht, als sie es konstruierte. Der Faden, mit dem sie das Schwänzchen befestigte, hat sich gelöst, die händisch angebrachten Nähte werden sichtbar. Ich bin versucht, es abzumachen, um zu sehen, was sich darinnen befindet. Ein Stoffrest, eine Socke? Und lasse schließlich Mutters Geheimnis ungelöst, wage nicht, es zu enthüllen. Stattdessen mache ich mich daran, die aufgerissenen Stellen zu flicken.

Zeit auf der Haut

Indem Mutter näht, hält sie die Dinge zusammen, hält sie die Körper ihrer Kinder, das Haus zusammen, ihre Siebensachen. Sie steckt in den Nähten, in den Maschen der für uns gestrickten Westen, Socken und Pullover. Sie hüllt uns in ihre Gedanken, ihre Wünsche. Wiederholt kommt eine Dame zu Besuch, eine Deutsche auf Kur. Sie bringt spannende Worte mit, wie Teneriffa und Flamenco, sie bringt Parfüm und Seife als Geschenk. Sie bringt Stoffe, und Mutter fertigt Kleider für wenig Geld.

Die deutsche Frau kann sich die Arbeit meiner Mutter leisten. Sie bessert ihre Garderobe auf. Mutter schneidert. Das ist das Geld, das sie sich verdient. Das sie für sich behält. Die Deutsche zieht sich die Arbeit meiner Mutter an, trägt sie am Leib. Trägt ihre Gedanken, ihre Zeit auf ihrer Haut. So wie ich auch.

Mutters Geheimnis

Die Farben der von Mutter für mich genähten Kleider sind vorwiegend Weiß, Rot und Schwarz. Weiß in Blusen, Schleifen, Strümpfen. Rot in Miedern, Jacken, Hüten. Schwarz in Kleidern, Hosen, Mänteln. Schwarz ist die häufigste Farbe meiner Kindheit. Weil schwarz die Männerjacken sind, die übrig bleiben, die Trauerkleider der alten Frauen. Ich darf eine Rasierklinge in die Hand nehmen und Nähte aufschneiden. Millimeter für Millimeter arbeite ich mich entlang, bedacht, weder meine Finger noch die Textur zu verletzen. Schlitze die Kleider auf und zerstöre die Geschichten der verstorbenen Frauen, die sie trugen. Grauer Staub hat sich in der Enge der Nähte verfangen.

Ich zupfe Fadenreste aus dem Stoff, kleine Löcher bilden das Gedächtnis des einstigen Gewands. Ich blase die grauen Fusseln fort, muss niesen. Mutter näht daraus einen Kleiderrock aus schwarzem Wollstoff. Verziert ihn an Saum und Ärmeln mit Bändern aus rotem Samt. Dazu trage ich sonntags meinen roten Hut mit weißer Feder.

Sonntagskleider

Der Hut meines Bruders ist schwarz, wie sein Janker. Seine Kniebundhosen grün. Sonntagskleider sind meist aus wertvolleren Stoffen und heller als die Kleider für Wochentage. Wir ziehen unsere besten Stücke sonntags für ein paar Stunden an, wenn wir spazieren gehen. Damit alle sehen, wie wir wären, zeigten wir immer unsere schöneren Seiten.

Doch wir Kinder fallen schnell aus der Rolle. Mein Bruder früher als ich. Ich habe zumindest gelernt, für ein Foto kurz stillzustehen. Er aber zappelt. Später darf ich mein schwarzes Wollkleid auch an Schultagen tragen. Aber die anderen Kinder machen sich lustig, Leichenkleid nennen sie es. In den roten Samtbändern sehen sie Streifen von Blut. Ich weigere mich, es weiter anzuziehen, sage Mutter nicht warum. Ein Streit entsteht. (Sabine Scholl, 14.5.2023)