Vor wenigen Tagen noch Interviewerin von Elon Musk (links im Bild), wenn man den aktuellen Berichten glauben darf, bald aber schon seine Nachfolgerin an der Spitze von Twitter: Linda Yaccarino.

Foto: Rebecca Blackwell / AP

Schon bald nach der Übernahme von Twitter hat Elon Musk eines klargemacht: Ewig wird er den Posten des Firmenchefs nicht bekleiden. Immerhin hat er ja bei den ebenfalls von ihm geleiteten Firmen wie Tesla und Space X auch noch ein bisschen was zu tun. Ein paar Monate und unzählige Aufreger später ist es nun so weit: Schon in wenigen Wochen soll seine Nachfolgerin antreten, verkündete Musk am Donnerstag – natürlich via Twitter.

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DER STANDARD

Eine Spur

Um wen es sich dabei handelt, wollte er dabei noch nicht verraten, beim "Wall Street Journal" will man den Namen aber schon wissen: Die bisherige Chefin des Werbe- und Partnergeschäfts des Medienkonzerns NBC Universal, Linda Yaccarino, soll es sein. Dass der Name jetzt noch nicht offiziell gemacht wurde, könnte dabei einfach mit schlechtem Timing zu tun haben, soll sie doch in den kommenden Tagen noch öffentlich für ihren bisherigen Arbeitgeber auftreten.

Die Chancen, dass Yaccarino den Job tatsächlich bekommt, stehen dabei durchaus gut, bringt sie doch die für Musk wohl wichtigsten Eigenschaften mit: Sie will den Job offenbar – und zwar sehr. Schon seit einigen Wochen war immer wieder zu hören, dass sie sich selbst aktiv für die Rolle als Twitter-Chefin ins Rennen gebracht hat. Zudem scheint Yaccarino sehr von Musks Leistungen angetan zu sein.

Wie sehr, zeigte sich erst vor wenigen Wochen in einem Interview, das Yaccarino mit Musk im Rahmen ihrer Werbekonferenz Possible führte – und ohne den geringsten Anflug von Kritik auskam. Dass Musk sich selbst gerne mit Leuten umgibt, die ihn öffentlich preisen, ist bekannt. So sind etwa auch einige seiner Partner bei der Mission der "Twitter-Übernahme" zu ihren Positionen gekommen.

Musk bleibt

Während die Fähigkeiten von Yaccarino in ihren Bereichen unbestritten sind, bleibt eines bei all dem auch klar: Die Fäden im Hintergrund werden weiterhin von Musk gezogen. So bleibt er nicht nur als Technikchef direkt in die Entwicklung involviert, er ist natürlich auch der alles bestimmende Besitzer von Twitter. Das heißt auch: Macht die neue Chefin nicht, was er will, könnte sie schnell wieder gefeuert werden.

Unter diesen Voraussetzungen wird es für Yaccarino – oder wer schließlich den Job übernimmt – natürlich schwierig, ein unabhängiges Profil zu entwickeln. Zumal sich Yaccarino und Musk derzeit gut zu verstehen scheinen, aber auch bekannt ist, dass der Tesla-Chef langfristig nicht gerne starke Personen neben sich akzeptiert. Zwar gibt es auch bei anderen Musk-Firmen wie Space X Personen, die sich um das Tagesgeschäft kümmern, dort ist er aber nicht so direkt involviert, wie es nun bei Twitter geplant ist.

Die Reibungspunkte sind damit programmiert: Denn selbst wenn sich die neue Chefin wirklich (fast) nur um Marketing und Partnerschaften kümmert, so sind das doch Bereiche, die direkt mit der Produktentwicklung zusammenhängen – und mit den dort von Musk getroffenen Entscheidungen. Das hat sich in den vergangenen Monaten recht gut gezeigt, wo Produktentscheidungen zum Teil massiv Werbende vertrieben haben.

Versteckspiel

Eine wichtige Aufgabe für eine neue Chefin ist aber auch, Musk aus der Schusslinie zu nehmen. Also das Gesicht des Unternehmens zu bilden – und zwar durchaus auch für die Politik. Immerhin ist die neue Twitter-Linie aus dieser Ecke zuletzt stark unter Beschuss geraten. Sollte es dabei zu Untersuchungen gegen Twitter kommen, müsste dafür künftig jemand anderer geradestehen.

Twitter Blue funktioniert nicht

Doch das ist bei weitem nicht die einzige Herausforderung, die auf eine neue Chefin zukommt. Die dringlichste ist dabei wohl die finanzielle: Musks Idee, Twitter über den Abodienst Blue zu wandeln, ist bisher ein veritabler Reinfall. Schätzungen gehen davon aus, dass es derzeit 640.000 Twitter-Blue-Abos gibt, das ist weit davon entfernt, ein tragfähiges Geschäftsmodell zu bilden.

Zumal auch eine weitere Zahl alarmierend ist: Von den 150.000 Personen, die zum Start von Twitter Blue ein Abo abgeschlossen haben, soll mittlerweile mehr als die Hälfte wieder gekündigt haben. Die bisher im Rahmen des Abos gebotenen Features scheinen also nicht zu ziehen. Ganz im Gegenteil, manche der dafür getroffenen Entscheidungen stoßen vielen Nutzerinnen und Nutzern sauer auf.

Ein Umstand, der gut durch eine andere Zahl illustriert wird: Das Ende für die alte – kostenfreie – Verifizierung auf Twitter hatte ebenso wenig den gewünschten Effekt. In den Tagen danach stieg die Zahl der Twitter-Blue-Abos um gerade einmal 28 – und nein, das ist kein Tippfehler. Gerade bei jenen, die Twitter schon seit vielen Jahren nutzen, hat sich der "blaue Haken" mittlerweile zu einer Art Negativauszeichnung gewandelt – eine, die sie nicht einmal mehr geschenkt haben wollen.

Werberückgang

Parallel dazu schwächelt weiterhin das Werbegeschäft von Twitter – und zwar massiv. Von all den umstrittenen Entscheidungen und Aussagen Musks rund um die Übernahme des Kurznachrichtendienstes hat es sich noch nicht erholt. Viele große Firmen haben damals ihre Werbung von Twitter zurückgezogen und sind bis heute nicht zurückgekehrt. So gehen aktuelle Prognosen davon aus, dass der Werbeumsatz von Twitter 2023 im Vergleich zum Vorjahr um rund 30 Prozent schrumpfen wird.

Ein Scherbenhaufen

Beim Produkt selbst sieht es kaum besser aus. Die neue Chefin steht vor so vielen Baustellen, dass schon fast von einem Scherbenhaufen gesprochen werden muss. Von Musks großen Ankündigungen ist bisher eigentlich nichts aufgegangen. Desinformation und Bots gibt es auf Twitter mehr als je zuvor, und sie hat vor allem durch das neue Verifizierungssystem erheblich mehr Verbreitung gefunden. Es sind oftmals genau die dahinter stehenden Personen, die sich Twitter-Blue-Konten kaufen, um damit Fake-Konten zu verifizieren – was die ursprüngliche Idee einer Verifizierung komplett ad absurdum führt.

Dasselbe gilt für Hasspostings. Dass Twitter dabei selbst lange gesperrte Konten von bekannten Neonazis wieder freigeschaltet hat, hat in dieser Hinsicht natürlich nicht geholfen – hat dies doch Signalwirkung.

Technische Probleme

Dazu kommt ein schier endlose Reihe an technischen Problemen, die offenbar durch einen Abbau der Infrastruktur und der damit betrauten Personen ausgelöst wurden. Mittlerweile gehören Fehler aller Art zur Normalität bei der täglichen Twitter-Nutzung – so stark, wie es seit den wilden Anfangszeiten der Plattform nicht mehr der Fall war.

Auch die Moderation hat die Plattform ganz offensichtlich nicht mehr im Griff. Gut zu sehen war das erst vor kurzem, als eine Kopie des derzeit im Kino laufenden "Super Mario"-Films stundenlang in voller Länge auf Twitter verfügbar war – und Millionen Views generierte.

Ideen

Dazu kommen eher zweifelhafte Produktideen. Private Nachrichten bei Twitter zu verschlüsseln ist an sich eine richtige Maßnahme, die lückenhafte Umsetzung stieß dabei aber schnell auf Kritik, da sie keinen echten Schutz bietet. Vor allem aber ist es eine sehr schlechte Idee, so etwas als Premium-Feature im Rahmen des Blue-Abos zu verkaufen.

Das heißt nicht, dass es gar keine interessanten Ideen gibt. Der Plan, über Twitter direkt den Zugriff auf einzelne Artikel kaufen zu können, ist durchaus spannend. Auch wenn ehrlicherweise gesagt werden muss, dass ähnliche Konzepte schon mehrfach ausprobiert und immer wieder gescheitert sind.

Schwer zu entkommen

Die größte Stärke von Twitter bleibt der Netzwerkeffekt. Auch wenn viele Kernnutzer über die aktuellen Entwicklungen klagen, von der Plattform zurückgezogen haben sich davon nur wenige. Durchaus schmerzhafte Ausnahmen bilden einzelne Fach-Communitys, die nun vermehrt bei Konkurrenten wie Mastodon zu finden sind. Abzuwarten bleibt, ob neue Konkurrenten wie Bluesky daran etwas ändern können, hat dieses doch zuletzt viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Eine andere Perspektive

Sollte Yaccarino den Job wirklich übernehmen, dürfte sie aber eine andere Perspektive anlegen. Nämlich stellt die aktuelle Situation eine sehr gute Basis für einen Neuanfang dar. Die zentrale "Leistung" von Musk war in den vergangenen Monaten eigentlich eine ganz andere: Er hat die Zahl der Angestellten um drei Viertel auf gerade einmal 1.500 reduziert.

Das war für ein Unternehmen, das zuvor keine großen finanziellen Schwierigkeiten hatte, bisher weitgehend ungewöhnlich. Sollte sich Twitter also erfangen, könnte das eine schlechte Nachricht für die restliche Branche und vor allem die dort Beschäftigen sein – wegen der Vorbildwirkung.

Sie weiß, was sie tut

Was bei all dem zudem nicht vergessen werden darf: Yaccarino ist als durchaus toughe Verhandlerin und Managerin bekannt. Sie dürfte also wissen, worauf sie sich einlässt. (Andreas Proschofsky, 12.5.2023)