In den Stil hineingeschlüpft, um mit und in ihm andere Ziele zu verfolgen: Michael Stavarič belehnt den großen Thomas Bernhard.

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Zuletzt schien die unbändige Lust, wie Thomas Bernhard zu schreiben, stark abgeklungen. Kaum jemand, der sich noch bereitfand, die bis zum Aberwitz verschlungene Syntax des Ohlsdorfer Weltliteraten nachzuahmen, geschweige denn sie auszustechen.

Die Frage aller praktizierenden "Bernhardiner" lautete seit jeher: Verträgt eine Form der Prosadichtung, die ihre bezwingende Kraft aus der Übertreibung schöpft, ihre neuerliche Überbietung? Michael Stavarič (51), der gebürtige Brünner, der in Laa an der Thaya groß geworden ist, gibt in Das Phantom, seinem konzentriertesten Roman seit einer kleinen Ewigkeit, eine verblüffende Antwort.

Er reiht streng nach Bernhards Vorbild Tirade an Tirade und weitet die Sätze über zwei und mehr Seiten aus. Aber er entkernt die Satzbauten, bricht die barocke Stuckatur herunter. Unter dem eben noch aufgewirbelten Staub schlüpft ein neuartiges Geschöpf hervor: ein Niemand, der alle Phasen der Nivellierung durchkrochen hat. Der sich die Bitterkeit menschlicher Existenz mit perversem Behagen auf der Zunge zergehen lässt. Stavaričs Figur hat dann ein Gefühl im Mund wie "Insekten auf einer Windschutzscheibe" (sic).

Er ist keiner der klassischen Bernhard-Empörer, die der Republik vor gut 30, 40 Jahren im Lodenmantel, in gut eingegangenen Maßschuhen, die Leviten lasen. Heute findet man seinesgleichen eher im Wutbürger-Milieu vor. Von Selbstmitleid gebeutelt, ballern die Abgehängten in ihren Schießkellern auf allerlei Pappkameraden.

Verpfuschter Simpel

"Thoms" Welt-Ekel wird nicht, wie noch bei Bernhard, von Popanzen der Macht gespeist, irdischen Vertretern von Gott, Gau und Ungeist. Kein Nazi oder irrer Fürst vertritt die neuralgische Stelle im Kosmos: jenen wunden Weltmittelpunkt, der irgendwo zwischen Gmunden und Salzburg-Lehen gelegen ist – und nach Bernhards Tod 1989 ein für alle Mal leer blieb.

Stavaričs Erzähler Thom ist ein Untergeher von schmächtiger Gestalt. Er scheint ebenso allwissend wie mit Blick auf seine verpfuschte Existenz ein Simpel. Jede seiner jammerläppischen Darlegungen führt ihn pflichtschuldig in den Superlativ. Eine reichlich durchschnittliche Kindheit, durchlitten in der Provinz, konfrontiert ihn mit ebenso trivialen wie flüchtigen Formen von Kränkung, Liebesverlust und notorischem Selbstekel.

Der Vater, ein Versicherungsvertreter, ist ein steriler Besserwisser. Die Mutter schüchtert das Söhnchen hingegen mit den Flausen einer gescheiterten Schauspielerin ein. Die Suche nach der einen ausschlaggebenden "Ursache" entfällt. Die Erforschung jener Umstände, denen zufolge ein armes Würstchen unwiderruflich in Saft gerät.

Und doch ist es so: Thom – dieser Bernhard’sche Namensrest – legt sich an mit der Welt. Sein "fragiler Geist- und Gemütszustand" korrespondiert mit tausenderlei Unbilden, wie sie das Leben für jeden durchschnittlich involvierten Menschen bereithält. Die Kellnerin im Stammlokal, ein gewisses Fräulein Gretchen, begegnet ihm freundlich, wünscht jedoch keinen erotischen Umgang mit ihm. (Der katastrophale gemeinsame Ausflug nach Hallstatt bildet eine Glanzepisode des Buchs!) Ein erfülltes Arbeitsleben entfällt, auch mangels Antriebs.

Kein Faust, sondern Fäustchen

Steinchen für Steinchen trägt Stavarič einen Berg des Missvergnügens zusammen. Und immer klarer erweist sich, dieser nach Erkenntnis ringende Faust ist bestenfalls ein Fäustchen. Die Suada von Das Phantom umfasst mehr als 300 Seiten. In Wahrheit währt sie – als der wahnhafte Monolog eines Verdämmernden – kaum eine halbe Stunde lang.

Das Kunststück des Romans besteht im Postulat einer Unmöglichkeit: Die Thomas-Bernhard-Rhetorik lässt sich beliebig in Betrieb nehmen, zumal wenn sie so virtuos heruntergekühlt wird wie von Michael Stavarič. Aber als ihr eigener Begründungszusammenhang kann sie ebenso fortschrittlich sein wie eben auch grässlich borniert. Stavarič ist der tüchtigste, weil ernsthafteste Bernhardiner seit Gert Hofmann (1931–1993): Dessen Roman Die Fistelstimme (1980), ein kurioser Aufenthalt im Bernhard-Nebel, gehört dringend wiedergelesen. (Ronald Pohl, 13.5.2023)