"Erdoğan hat verloren" titelte am Montagmorgen die oppositionelle Tageszeitung Cumhuriyet. Das wird Präsident Recep Tayyip Erdoğan selbst wahrscheinlich nicht so sehen, obwohl er tatsächlich im Vergleich zur Präsidentenwahl 2018 deutlich weniger Stimmen hat. Dennoch, nach dem vorläufigen Ergebnis der Präsidentschaftswahl hat immerhin keiner der beiden Kandidaten im ersten Wahlgang gewonnen: Erdoğan liegt mit 49,51 Prozent vor seinem Herausforderer vom oppositionellen Parteienbündnis Kemal Kılıçdaroğlu, der auf 44,89 Prozent kam. Somit gibt es in zwei Wochen, am 28. Mai, erstmals in der Türkei eine Stichwahl zwischen einem Präsidenten und dessen Herausforderer.

VIDEO: Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu sagte nach der Auszählung fast aller Stimmen am frühen Montag, im Falle einer Stichwahl würden "wir die zweite Runde unbedingt gewinnen". Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan verwies vor Anhängern in Ankara auf seine "klare Führung".
AFP

Am Montagnachmittag gab der Hohe Wahlrat zwar für die Präsidentenwahl ein vorläufiges, offizielles Ergebnis bekannt, allerdings vorerst noch keines für die ebenfalls am Sonntag ausgeschriebene Parlamentswahl. Der Vorwurf der Wahlmanipulation wurde bis Montagnachmittag nicht ausgeräumt, allerdings auch von der Opposition nicht weiter konkretisiert. Spätestens wenn die Opposition bis Dienstagmittag, das ist der letzte Termin, offiziell Einspruch gegen das Wahlergebnis erhebt, wird sie genaue Angaben machen müssen, wo und wie Stimmen bei der Zählung verschwunden sein sollen.

Nicht nur die Opposition, auch die OSZE-Wahlbeobachtermission hat die Auszählung der Stimmen als insgesamt zu intransparent bezeichnet. Beide Seiten, sowohl Erdoğans als auch Kılıçdaroğlus Lager gingen jedoch schon in der Wahlnacht davon aus, dass es eine Stichwahl geben würde.

Keine Wahlempfehlung

Der dritte Präsidentschaftskandidat, der Ultranationalist Sinan Oğan, landete abgeschlagen mit gut fünf Prozent weit hinter den anderen beiden Kandidaten.

Oğan wollte sich am Montagmorgen noch nicht festlegen, ob er eine Wahlempfehlung für die Stichwahl in zwei Wochen abgeben will. Sein Anliegen als Ultranationalist ist aber vor allem, dass kurdische Parteien keinen Einfluss auf die Politik in der Türkei bekommen sollen. Er hat sich vor einiger Zeit aus der rechtsradikalen MHP, dem Koalitionspartner von Erdoğan, verabschiedet, um diesem Anliegen mehr Nachdruck verleihen zu können. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass die Opposition auf Stimmen aus der Anhängerschaft von Oğan rechnen kann.

Bei der zeitgleich abgehaltenen Parlamentswahl hat das Regierungsbündnis von Erdoğan nach den bislang vorliegenden Zahlen seine absolute Mehrheit im Parlament verteidigen können. Erdoğans AKP kam danach auf 36 Prozent, die CHP von Kemal Kılıçdaroğlu auf 26 Prozent. Die beiden nächst größeren Parteien, die rechtsradikale MHP, die mit Erdoğan koaliert, und die moderatere rechte İyi Parti, die im Oppositionsbündnis die zweitstärkste Kraft stellt, kamen jeweils auf rund zehn Prozent. Die grün-linksliberale Yeşil Sol Parti, unter deren Label die kurdische HDP gemeinsam mit kleineren linken Parteien angetreten war, kam auf neun Prozent. Zählt man die Kleinparteien, die sich zu dem einen oder anderen Parteienblock zugehörig fühlen, mit, hätte Erdoğans Parteienblock demnach seine absolute Mehrheit 49,3 Prozent gegenüber dem oppositionellen Parteienblock mit 45,6 Prozent knapp verteidigt.

Teilweise absurd hohe Zahlen

Nach den vorläufigen Ergebnissen hat Erdoğan auch in dem Erdbebengebiet eine zum Teil absurd hoch wirkende Mehrheit. Obwohl es in den ersten Tagen nach dem Beben viel Kritik an dem Versagen der Regierung gegeben hatte, konnte Erdoğan mit vielen finanziellen Versprechen offenbar doch eine Mehrheit davon überzeugen, dass es nur mit ihm gelingen könne, die Region wieder aufzubauen.

Insgesamt zeigt die Wahlkarte der Türkei an, dass sich die Spaltung des Landes auch geografisch verfestigt. Kılıçdaroğlu hat die gesamte Mittelmeer- und Ägäisküste gewonnen, dazu den Großraum Istanbul und den Großraum Ankara. Weil die HDP bei der Präsidentschaftswahl dazu aufgerufen hatte, dieses Mal Kılıçdaroğlu zu wählen, kommt noch der gesamte Südosten dazu.

Recep Tayyip Erdoğan war im Wahlkampf überlebensgroß.
Foto: AP / Emrah Gurel

Erdoğan kontrolliert dagegen ganz Zentral- und Nordost-Anatolien sowie die gesamte Schwarzmeerküste. Mit seiner Mehrheit im Parlament wird Erdoğan nun darauf verweisen, dass es bei der Stichwahl um die Präsidentschaft nur mit ihm Stabilität geben könne, weil sich bei einem Sieg von Kılıçdaroğlu Präsident und Parlament gegenseitig blockieren würden. Das wäre allerdings für die Türkei ein Novum und ist in der Praxis deshalb nicht erprobt. Ob es tatsächlich zu Blockaden kommen würde, ist schwer zu sagen.

Kritischer Blick aus Österreich

Über Auffälligkeiten bei den Wahlen in der Türkei könnte die grüne Nationalratsabgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic ausgiebig sprechen. Die österreichische Politikerin war als Wahlbeobachterin in Ağrı im Einsatz, einer 500.000-Einwohner-Provinz im äußersten Osten des Landes. Vorgefallen sei dort mehr als genug: "Aus meiner Sicht kann, ja muss sogar das Wahlergebnis angezweifelt werden", sagt Ernst-Dziedzic. "Es deutet alles darauf hin, dass die AKP alle Register gezogen hat, um hier die Wahl zu gewinnen." Von einer geheimen Stimmabgabe könne dort nämlich gar nicht die Rede sein. Die Polizei und das Militär seien vor und in den Wahllokalen allgegenwärtig gewesen, obwohl sie das gar nicht dürften, erzählt Ernst-Dziedzic dem STANDARD. So etwas habe zweifellos einen Einschüchterungseffekt.

Betagtere Wählerinnen und Wähler sollen von den Beamten oft sogar bis in die Wahl kabine hinein begleitet worden sein – vorgeblich, um zu helfen. Vor den Lokalen beobachtete Ernst-Dziedzic außerdem immer wieder Wahlleiter, "die die Leute gefragt haben, was sie wählen".

Ihr selbst sei trotz Diplomatenpasses öfter der Zutritt zum Wahllokal verwehrt worden. Einmal habe ein Beamter dabei die Waffe an der Hand gehabt. Eine Wahlbeobachterkollegin sei von der Polizei dazu gedrängt worden, sämtliche Bilder und Videos von Wahlvorgängen umgehend zu löschen, schildert Ernst-Dziedzic: "Man sollte als Wahlbeobachterin mit der Bevölkerung ja nicht ins Gespräch kommen." (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, Jan Michael Marchart, 15.5.2023)