Sam Smith in der Wiener Stadthalle machte sein sympathisches Konzert unter anderem auch zu einer Massenkaraoke-Veranstaltung.

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Es beginnt mit einem nackten Menschen. Der liegt zwölf Meter groß in der Wiener Stadthalle und streckt dem Publikum sein goldenes Hinterteil entgegen. Auf der mit Showtreppe, Hebebühne und Hochsitz ausgestatteten Figur, die auch als Umkleidekabine dienen wird, stakst mit High Heels einer der erfolgreichsten Popstars herum, den die Erste Welt derzeit zu bieten hat.

Sam Smith ist gekommen, um auch den Wienern seine musikalisch untermauerte Verheißung von der vielbeschworenen "Freiheit" zu präsentieren. Die sympathische genderqueere Person aus Großbritannien teilt ihr Lehrstück in drei Kapitel ein. Love, Beauty und Sex werden jeweils mit einer Erbauungs- und Selbstermächtigungsballade begonnen. Diese Art Musik wird gern von Kandidaten und Kandidatinnen in Castingshows bemüht, um damit der Fernsehwelt zu beweisen, dass es sehr schwer ist, die Mariah Carey und Whitney Houston zu geben. Das können derzeit nur Adele oder eben Sam Smith mit ihren klaren kräftigen Stimmen.

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Sam Smith startet das Konzert mit Stay With Me, unter anderem für dieses Lied erhielt Smith 2015 vier Grammys. Wenn man das Radio, egal auf welchem Sender – außer Radio Stephansdom und Ö1 – aufdreht, wird das Lied seit acht Jahren garantiert innerhalb von zehn Minuten gespielt werden. Das Publikum feiert das. Es singt überhaupt die meisten der gut 20 Lieder im Konzert mit. Und wann sieht man schon einen Gutteil der 13.000 Besucherinnen in der Stadthalle tanzen? Dafür müsste man bei anderen Konzerten auf dem Saalboden wohl eher glühende Kohlen verteilen.

Sam Smith schafft das bei zünftiger Lautstärke mit einer Mischung aus flutschendem R 'n' B, zeitgenössischem Formatradiopop und House- und Discozutaten. Alles zusammen wird zu einem gefälligen Cocktail gemischt, der auch einem im Nachtleben und der Ausschweifung weniger geschulten Publikum nicht allzu sehr die Sinne verwirrt.

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Mit schlank besetzter Band und zweitweise Playback bei dancefloorlastigen Stücken sowie dreistimmigem Chor geht es durch Karaokehits und Anbratklassiker wie Like I Can oder Dancing With a Stranger. Über diverse Kostümwechsel, vom Glitzerkorsett über ein wohl von Adele ausgeborgtes Ballkleid bis zu einer Explosion in pinkem Plüsch und Songs wie I'm Not Here to Make Friends oder Donna Summers I Feel Love geht es langsam zum bacchantischen Finale Sex.

Die Musik ist mit zunehmender Dauer und einigen Durchhängern bei den Balladen nun etwas gleichförmig geworden. Zumal Sam Smiths Kopfstimme in all der auch mit Autotune unterstützten Party- und One-Night-Stand-Euphorie immer auch den heute im Pop offenbar notwendigen Mindestanteil an zartem Gejammer und erhöhtem Leidensdruck beinhaltet.

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Das kommt jetzt nicht ganz überraschend: Im zum Höhepunkt der Show führenden Abschnitt Sex sehen wir Sam Smith und seine Tänzerinnen in knappem Lack und Leder aus dem Erotikshop. Den gängigen sexuellen Fantasien sind natürlich Grenzen gesetzt. Die wirklich überaus sympathische nonbinäre Chief Executive Officer des Geschehens am goldenen Mikrofon trägt Strapse, knappes Höschen, Teufelshörner und schwingt den Dreizack. Es ist aber eh lieb und nett gemeint.

Neben dem von Sexpertin Madonna ausgeborgtem Hit Human Nature wird zum Abschluss Unholy geboten, Sam Smiths aktueller sexy anzüglicher Gassenhauer mit Kim Petras. Jetzt muss es aber genug sein. Der Aufforderung Sam Smiths, sich auszuziehen, ist niemand nachgekommen. Das ist unsere Freiheit. Morgen müssen wir alle wieder früh raus. (Christian Schachinger, 19.5.2023)