Der frühere Vizekanzler und ÖVP-Chef Michael Spindelegger steht der NGO für "Migrationsmanagement" seit 2016 vor.

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Es ist eine noble Adresse in der Wiener Innenstadt, an der das ICMPD seinen Sitz hat: Die internationale Organisation residiert in der Gonzagagasse 1, die ihren Namen Annibale Franz Maria Gonzaga verdankt. Der war im 17. Jahrhundert Stadtkommandant von Wien, wo er Teile der Stadtmauer errichten ließ.

Das ist passend, denn auch das ICMPD beschäftigt sich mit Mauern, physischen und anderen. Allerdings nicht in Wien, sondern auf dem ganzen Kontinent. Das International Centre for Migration Policy Development, das 1993 von Österreich und der Schweiz gegründet wurde, hat mittlerweile 20 Mitgliedsstaaten – und ist mächtiger als je zuvor. Das liegt auch an seinem Generaldirektor, der es geschickt als zentralen Akteur in der europäischen Migrationspolitik platziert hat: dem früheren Vizekanzler Michael Spindelegger.

Viel Geld für Grenzschutz

Der einstige ÖVP-Chef wechselte 2016 zum ICMPD. Seither hat sich das Jahresbudget der Organisation vervierfacht, von 15 Millionen Euro im Jahr 2015 auf 74,5 Millionen Euro im Jahr 2022.

Doch viele Projekte des ICMPD sorgen für Kritik, und auch intern gibt es Probleme. Das zeigen Recherchen der Transparenzplattform Frag Den Staat und des STANDARD. Am Freitagabend war das ICMPD zudem Thema des "ZDF Magazin Royale" von Jan Böhmermann.

Worum es geht: Die Organisation bietet ihren Mitgliedsstaaten einen Ort, wo man abseits der Öffentlichkeit über Grenzmanagement sprechen kann – und da fließt viel Geld. Nicht nur an Nichtregierungsorganisationen, sondern auch an autoritäre Machthaber, die ihre Grenzen zur EU abschotten lassen.

Trainingscenter in Tunesien

Ein Beispiel dafür ist Nordafrika. Das ICMPD ist in Libyen, Marokko und Tunesien aktiv und unterstützt dort im Auftrag der EU die Küstenwachen mit Trainings und Equipment. In Tunesien baut es im Auftrag zwei Trainingscenter, unter anderem finanziert von Österreich, mit einer Million Euro.

Der marokkanischen Küstenwache wurde Überwachungssoftware für Mobilgeräte übermittelt. Laut einer Ex-ICMPD-Mitarbeiterin gibt es keine Mechanismen, um Missbrauch durch marokkanische Behörden, etwa das Ausspähen von Journalisten, zu verhindern.

Es ist weithin bekannt, wie die Küstenwache etwa in Libyen agiert. Erst vor kurzem hatte ein Bericht des UN-Menschenrechtsrats festgehalten, dass die Unterstützung der libyschen Küstenwache durch die EU zu bestimmten Menschenrechtsverletzungen führt.

Bei der Ausarbeitung eines Strategiepapiers zum "Migrationsmanagement" in Libyen war das ICMPD hautnah dabei. Migration stelle eine Gefahr für die libyschen Bürgerinnen und Bürger, für Gesellschaft, Institutionen und den Staat insgesamt dar, daher müssten "radikale Maßnahmen" ergriffen werden, damit Libyen seine Grenzen wieder kontrollieren könne. Konkret: Training und technische Unterstützung, heißt es darin.

Das Papier ist offenbar so brisant, dass es geheim bleiben soll: Die EU verweigerte bei einer Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz die Herausgabe dieses "White Paper", unter Berufung auf die Gefährdung internationaler Beziehungen.

Marsaleks "Refugee Card"

Intensiv mit Libyen hatte sich damals auch der Wirecard-Manager Jan Marsalek beschäftigt, der mittlerweile einer der meistgesuchten Männer der Welt ist. Marsalek hatte einst versucht, eine Söldnertruppe in Libyen aufzubauen, er soll von der Kontrolle der Migrationsströme nach Europa geträumt haben. Über seine geopolitischen Vorstellungen soll Marsalek auch in illustren Runden in seiner Münchner Villa oder im Gourmetrestaurant Käfer referiert haben – im April 2017 waren da etwa Spindeleggers Mentor, der einstige Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP), der französische Ex-Präsident Nicolas Sarkozy sowie der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber anwesend.

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Eine Verbindung zwischen ICMPD und Marsalek existiert – allerdings nicht über Libyen, sondern über eine Art Bankomatkarte für Flüchtlinge in Europa. Das zeigen E-Mails aus Marsaleks Postfach bei Wirecard. Der IT-Konzern wollte eine "Refugee Card", eine Bezahlkarte für Flüchtlinge mit weitgehenden Überwachungsmaßnahmen, produzieren. In Bayern soll diese Karte kommen, dafür wurden sogar Gesetze geändert. Dort ist man nun auf der Suche nach einem neuen Anbieter. Bezüglich Österreichs heißt es in München, man sei "mit dem ICMPD gerade auch im Hinblick auf eine gleichlaufende Umsetzung in Österreich im Austausch" gewesen. "Nachdem es in Österreich kein Interesse an einer gemeinsamen Umsetzung gab, erfolgte kein weiterer Austausch."

Eng mit dem BMI

Ansonsten ist die Kooperation zwischen dem österreichischen Innenministerium und Spindeleggers ICMPD aber intensiv. Das Innenministerium, das derzeit von Gerhard Karner (ÖVP) geführt wird, ist jedenfalls ein enger Partner für das ICMPD: Fast 5,5 Millionen Euro fließen laut internen Unterlagen aus Wien in das Budget der Organisation. Mit dem Innenressort werden derzeit sieben Projekte durchgeführt, etwa "Grenzmanagement" in Pakistan und Tunesien.

Deshalb kam die Organisation auch im ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss regelmäßig zur Sprache. E-Mails zeigen, wie Spindelegger immer wieder persönlich in Ministerien vorsprach, um Förderungen zu erhalten. Da ging es etwa um ein Projekt, das Flüchtlinge zur freiwilligen Rückkehr nach Nigeria animieren sollte. 750.000 Euro wollte das ICMPD dafür, letztlich wurden es 274.000 Euro – und ein einziger Nigerianer kehrte zurück.

Unterlagen aus dem U-Ausschuss zeigen außerdem, dass im Innenministerium von einer Vielzahl von Fehlern und falschen Berechnungen die Rede war. In einem Brief eines Spitzenbeamten an Spindelegger hieß es, Zielvorgaben seien "klar verfehlt" worden. Der frühere ÖVP-Chef soll auch um Förderungen "abseits der vorgesehenen Kriterien" gebeten haben.

Viel Kritik löste 2018 ein Theaterstück für Kinder aus, das vom ICMPD und dem Innenministerium organisiert worden war: Es thematisierte die Abschiebung eines afrikanischen Kindes.

Kritik an Projekt Lipa

Erst vor wenigen Wochen sorgte ein Projekt mit ICMPD-Beteiligung wieder für heftige Aufregung: die "Hafteinheit" im Lager Lipa in Bosnien-Herzogowina. Ein interner Bericht zeigt, dass das ICMPD aktiv mit dieser Idee auf Bosnien zugegangen sei. Ebenso sagt das ICMPD, dass mehr Geld in Migrationsmanagement anstatt in humanitäre Hilfe gesteckt werden soll. Die Organisation bietet auch an, den Dialog für ein Rückübernahme-Abkommen mit Kroatien zu fördern. All das erfolgt, ohne dass das ICMPD Transparenzpflichten hätte. Die Organisation bietet ihren Mitgliedsstaaten einen Raum, um abseits der Öffentlichkeit über Migration zu sprechen.

"Spätestens im ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss wurde klar, dass die Projekte des ICMPD mehr als dubios sind", sagt die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper. Sie fordert "vollständige Transparenz, denn die Millionen fließen weiter".

Und das, obwohl das ICMPD mit internen Problemen kämpft: So zeigt ein Diversitätsbericht von 2019, dass jeder Dritte bei seiner Arbeit für das ICMPD diskriminiert oder belästigt worden ist. Ebenso würden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rassistische und diskriminierende Kommentare über Menschen des afrikanischen Kontinents machen – wo ICMPD primär arbeitet.

Nach dem Bericht seien "interne Schritte gesetzt" worden, sagt die Organisation auf Anfrage. (Fabian Schmid, Vera Deleja-Hotko, Mitarbeit: Nidzara Ahmetasevic, Zach Campbell, Lorenzo D’Agostino, 19.5.2023)