Anders als im benachbarten Sölden schwört man in Vent auf unberührte Natur als Urlaubsmotiv der Zukunft. Der massentouristischen Erschließung wurde hier ein Riegel vorgeschoben.

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Die Nacht war föhnig, der Schlaf in der merklich dünnen Luft etwas unrund. Jetzt ist das Wetter diesig, Nebel verhindert die Fernsicht, langsam verrinnt der Morgen in der renovierten Similaun-Hütte auf 3019 Metern Seehöhe in den Ötztaler Alpen. Und dann ist da auf einmal dieser zunächst undefinierbare Ton, der langsam anschwillt zu einer alles andere zudeckenden vibrierenden Tonkulisse.

Und dann sind sie zu sehen, die ersten einer nicht enden wollenden Herde von Schafen, begleitet von Hirten, die sie durch Zurufe in Bewegung halten und die jüngsten Lämmer in den Armen oder auf den Schultern tragen. Eine kurze Rast, ein Bier und eine Mahlzeit für die Schäfer, dann geht es weiter über den schneebedeckten Gletscher.

Zwei Mal im Jahr ist dieses archaische Schauspiel zu erleben. Über 2000 Schafe überqueren den Alpenhauptkamm. Im Frühsommer (heuer am 12. Juni) vom Südtiroler Schnalstal über das Niederjoch zu den Sommerweiden oberhalb von Vent, und im Herbst wieder zurück. Dieser Jahrhunderte alte Viehtrieb erinnert daran, dass Vent nicht, wie das übrige Ötztal, vom Inntal aus, sondern von Süden her besiedelt wurde und bis ins 19. Jahrhundert kirchlich und gerichtlich zum Südtiroler Vintschgau gehörte.

Der "Ötzi"-Fund

Seit dem Fund des "Mannes vom Hauslabjoch", besser als "Ötzi" bekannt, weiß man, dass eine Verbindung über die Gletscher seit über 5000 Jahren besteht. Ob es mit dieser bereits prähistorischen Sonderstellung von Vent zusammenhängt, dass dieses heute nicht einmal 200 Einwohner zählende Dorf in den vergangenen Jahrzehnten einen Weg ging, der sich von der massentouristischen Entwicklung Söldens ganz bewusst und ganz extrem unterscheidet, mag dahingestellt bleiben.

Tatsache ist, dass Vent 1980, am Höhepunkt der Gletschererschließungen mit Seilbahnen und Liften seine Zukunft als "Bergsteigerdorf Tirols" definierte. Einstimmig lehnten die Venter eine geplante Erschließung des Hochjochferners als Sommerskigebiet ab und verhinderten damit ein gigantisches Liftkarussell, das die Ötztaler Gletscher mit dem Schnalstal verbunden und eines der großzügigsten und einsamsten Hochtourengebiete der Ostalpen dem Massentourismus preisgegeben hätte.

"Obwohl sich die Venter bewusst sind, dass ihnen damit der allseits beliebte Herbstskifahrer als touristische Geldquelle entgeht", heißt es in einer vom Venter Bergführer und Hotelier Lois Pirpamer formulierten Deklaration, "sind sie der festen Überzeugung, dass der künftige Gast das Wandern in der unberührten Natur als Urlaubsmotiv immer mehr zu schätzen wissen wird."

Wiege des alpinen Tourismus

Damit erinnerte sich Vent auch an seine eigene Fremdenverkehrstradition als "Wiege des alpinen Tourismus". In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkte hier der legendäre "Gletscherpfarrer" Franz Senn. Der ließ auf eigene Kosten Wege anlegen, baute sein Pfarrhaus zur Bergsteigerherberge aus, initiierte den Bau von Schutzhütten, arbeitete professionelle Richtlinien für das Bergführerwesen aus und war 1869 Mitbegründer des Alpenvereins.

Die Venter Option für eine Zukunft als naturnahes Erholungsgebiet gründet aber beileibe nicht nur auf dem Beschwören solcher Traditionen. Die wirtschaftliche Wertschöpfung des Dorfes ist stark vom Familientourismus, dem Bergführerwesen und der Bewirtschaftung von Schutzhütten geprägt.

Die Söhne von Lois Pirpaumer etwa bewirtschaften drei Schutzhütten und führen gerade jetzt im April Skitouren rund um Vent. 3000 Tourengeher jährlich besteigen allein die Wildspitz, den mit 3772 Metern höchsten Gipfel Tirols. Die Deklaration von 1980 hatte Folgen. 1981 beschloss der Tiroler Landtag ein "Ruhegebiet Ötztaler Alpen", 1990 wurden alle nicht erschlossenen Gletscher im Land unter Naturschutz gestellt. Im Anschluss daran meldete die Tiroler Landesregierung das Ruhegebiet Ötztaler Alpen der EU in Brüssel als "Natura 2000-Gebiet", was einer Bannbulle gegen massentouristische Erschließung gleichkommt.

Dagegen formierte sich Widerstand

... nicht zuletzt aus eigenen Reihen. Als das benachbarte Pitztal mit der Finanzierung einer Liftverbindung nach Vent lockte, waren 109 von 114 Ventern dafür. Vorausgegangen war 1996/97 ein empfindlicher Rückgang der Nächtigungszahlen. In dieser Situation wurde der Alpenverein als Schutzhüttener- halter aktiv. Gemeinsam mit den Einheimischen wurde eine Arbeitsgemeinschaft "Pro Vent" und eine Wege- gemeinschaft "Inneres Ötztal" gegründet. Schutzhütten werden saniert, ein Weitwanderweg "Via Alpina" beworben und ein Gletschermuseum projektiert.

Jetzt aber droht dem Bergsteigerdorf neue Gefahr. Die Tiroler Wasserkraftwerke-AG (Tiwag) denkt über ein Staubecken oberhalb der Venter Rofenhöfe, der seit dem Mittelalter bewirtschafteten, höchstgelegenen Dauersiedlung der Ostalpen (auf 2014 Metern Seehöhe), nach. Peter Haßlacher, im Österreichischen Alpenverein für Raumplanung und Naturschutz zuständig: "Wasserkraft ist notwendig, aber man sollte die bestehenden Anlagen im Kaunertal oder in Gerlos optimieren, statt neue zu bauen." Im Vent würde allein der jahrelange Baustellenverkehr jeden sanften Tourismus zerstören. Im Juni soll der Vorbericht der Tiwag vorliegen.
(Horst Christoph/Der Standard/rondo/15/04/2005)