Auch als Buch: Die besten Stadtgeschichten aus dem Stadtgeschichten - Archiv - zum Wiederlesen & Weiterschenken. "Wiener Stadtgeschichten" mit Illustrationen von Andrea Satrapa-Binder, Echomedia Verlag Ges.m.b.H., ISBN 3-901761-29-2, 14,90 Euro.

Von Montag bis Freitag täglich eine Stadtgeschichte von Thomas Rottenberg

Es war am Wochenende. Da hat K.s Sohn plötzlich ziemlich hoch gefiebert. Aber daran, dass K. sich zum ersten Mal in seinem Leben vor ohnmächtiger Wut beinahe übergeben hätte, hat das eigentlich nur am Rande etwas zu tun. Und als er sich auf den Weg zur Apotheke machte, war K. auch noch entspannt. So entspannt, wie man als Vater eines Fünfjährigen halt ist, wenn Sohnemann plötzlich mit fast 39 Fieber am Sofa liegt.

Die offene Nachtapotheke, erzählte K., habe er rasch gefunden. Obwohl er bei Freunden – in einem fremden Bezirk – war. Und vor der Apotheke war ein Parkplatz frei. Aber den Wagen, der da die Alser Straße hinunter und in großer Entfernung dahergebraust kam, sagte K., habe er kommen sehen. Und sich über das Tempo gewundert.

Notbremsung

Er sei schon gestanden, habe den Rückwärtsgang eingelegt gehabt und geblinkt – aber der blaue Kleinbus habe keine Anstalten gemacht zu bremsen oder auszuweichen. Erst als K. sich schon duckte, habe der Vanfahrer eine Notbremsung hingelegt und sei einen Millimeter hinter K.s Wagen mit quietschenden Reifen zum Stillstand gekommen. Der Van habe zu hupen begonnen. Dann, sagt K., sei der Fahrer ausgestiegen.

Der Vanfahrer artikulierte sich deutlich: Ob K. nicht Autofahren könne? Dass er von hier verschwinden solle. Dass das nicht K.s Parkplatz sei. Und dass K. weiterfahren solle, bevor etwas passiere. K., sagte K. später, habe zunächst noch Ruhe bewahrt. Und gesagt, er müsse nur rasch zur Apotheke. Blöderweise hat K. lange in Deutschland gelebt. Und so war sein Zungenschlag Benzin in die glühende Wut des Vanfahrers: Das Schimpfen wurde ein bisserl unerträglich – und die Drohungen eindeutig.

Kippa

K. reichte es. Er stieg aus dem Wagen. Normalerweise genügt das, um Stänkerer zur Ruhe zu bringen. Normalerweise. Aber als der Vanfahrer K.s Kippa sah, drehte er vollends durch. "Saujud", erzählte K. später vor Zorn bebend, sei noch das harmloseste gewesen, was ihm da an den Kopf geflogen sei. Dass man ihn vor ein paar Jahren vergessen habe. Dass man ihn hier sicher nicht brauche. Und dass der Vanfahrer - wenn nicht jetzt, dann doch demnächst – schon dafür sorgen werde, dass er dorthin käme, wo er hingehöre. Und so weiter.

Er sei, sagte K., vor Überraschung wie gelähmt gewesen. Und habe sich gerade noch zu einem "Du Arsch" aufraffen können. Da habe er die Rechnung aber ohne die Begleiterin ("eine solariumgebräunte Blockwarttussi", versuchte K. später zu scherzen – aber es kam irgendwie lahm) gemacht: "Einer wie du hat uns zu siezen, du Arschsau", habe sie begonnen - und als sie fertig war, habe alles, was ihr Mann vorher gesagt hatte, fast wie Komplimente geklungen. Er sei geflüchtet, sagt K. – und an der nächsten Ecke habe ihn das große Zittern überkommen.

Selbstverständlichkeit

Er sei, sagte K., in der halben Welt herumgekommen. Aber so etwas habe er erstens noch nicht erlebt und zweitens in einem zivilisierten Land auch nicht für möglich gehalten. Vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die Beschimpfungen kamen, hätten ihn fassungs- und sprachlos gemacht. Um so loslegen zu können, müsse man das dazugehörige Vokabular samt Gedankengut eingebrannt haben. Beim ersten Mal könne das nie und nimmer so flüssig und automatisch kommen.

K. brauchte über eine Stunde bis er und sein Puls sich wieder beruhigt hatten. Er habe, sagte er, sich noch nie gefürchtet. Nicht in Wien. Und schon gar nicht vor Dingen, die er für ausgestorben gehalten habe. Am schlimmsten, sagte K., wären aber die Gesichter der Alten, mit denen er und seine Freunde den Sederabend zum Anfang des Pessachfestes feierte, gewesen. Als sie sagten, sie hätten gehofft, dass ihre Kinder dieses ihnen unvergesslich gewordene Gefühl der fassungslosen Ohnmacht nie erleben würden.