Oliver Rathkolb: Eine Konstante im 20. Jahrhundert ist das Trauma des Verlusts der Großmachtstellung. Deswegen beziehen wir alles auf uns selbst.

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Der Politologe und Historiker Oliver Rathkolb, Herausgeber der Kreisky-Memoiren, über die noch sehr junge Identität und über die Errungenschaften und Defizite des "paradoxen Österreich". Das Gespräch führten Hans Rauscher und Bernhard Madlener.

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Standard: Herr Professor, Sie arbeiten an einem Buch mit dem Titel "Die paradoxe Republik Österreich 1945 bis 2005". Was sollen wir uns darunter vorstellen?

Rathkolb: Dieses Element der Widersprüche sieht man schon in der Selbstbeschreibung der Österreicherinnen und Österreicher, die sich auf der einen Seite als sehr gastfreundlich, gemütlich, tourismusoffen engagieren. Wenn man auf der anderen Seite die Umfragen zur Frage Ausländer, Integration und Immigration ansieht – auch im europäischen Vergleich – entsteht ein ganz anderes Bild.

Das ist sehr stark geprägt durch Migrationsängste und durch Ausgrenzungsbestrebungen.

Man sieht das auch bei der Spendenbereitschaft: Wenn es darum geht, für Opfer von Flutkatastrophen oder im Tierschutz aktiv zu sein, ist die österreichische Seele sehr großzügig; wenn es darum geht, eine moderne, der Gegenwart angepasste Asylgesetzgebung zu schaffen, sieht das ganze schon anders aus.

STANDARD: Gilt das nicht für andere auch?

Rathkolb: Ich glaube, in Österreich ist es besonders stark, aus einem einfachen Grund – weil die nationale Identität eine sehr junge ist. Es gibt momentan etwa auf der einen Seite eine sehr starke Identität – was Nationalstolz betrifft, können wir uns durchaus da mit den Amerikanern messen.

Auf der anderen Seite – und das ist auch wieder so ein Paradoxon – sind die Österreicher unglaublich unsicher. Und ich glaube, es hängt letzten Endes nach wie vor mit dem Trauma 1918 zusammen, so komisch das klingt.

Ich glaube, dass der österreichische Identitätsbildungsprozess durch die Auflösung der österreich-ungarischen Monarchie unterbrochen wurde. Also für mich eine Konstante im 20. Jahrhundert ist das Trauma des Verlusts der Großmachtstellung. Deswegen beziehen wir alles auf uns selbst. Wenn wir ein Abfahrtsrennen gegen einen amerikanischen Skifahrer verlieren, dann ist die Schlagzeile "Goldraub!".

STANDARD: Aber immerhin gab es in der Zweiten Republik die Ablösung von der deutschen Identität.

Rathkolb: Es war natürlich wesentlich günstiger, sich als Opfer von Deutschland abgrenzen zu können. Aber die Neutralität ist dann ein perfektes Top-down-Projekt der Identität. Der damalige Außenminister Bruno Kreisky hat schon 1965 sehr stark auf die Neutralität gezielt, und dann wurde ja erst der 26. Oktober als Nationalfeiertag beschlossen, der vorher nur der "Tag der Fahne" war. Der soziale, ökonomische Aufstieg wird um die Neutralität gruppiert und als österreichischer Sonderweg empfunden.

STANDARD: Aber jetzt läuft das aus.

Rathkolb: Das Problem, das die Österreicher heute haben, ist, dass sie plötzlich in einem neuen Identitätsbildungsprozess verwickelt sind, wo es nicht mehr um eine erfolgreiche, kleinstaatliche Nationalität und Identität geht, sondern darum, die österreichische Identität in den europäische Identitätsraum einzupassen.

Das ist der Hintergrund etwa der "Sanktionen" gegen Österreich. Das erklärt ja auch dieses Paradoxon, dass wir uns zwar nach wie vor als Zentrum Zentraleuropas verstehen, und gleichzeitig haben wir uns wirklich nicht sehr geschickt beim Integrationsprozess unserer Nachbarstaaten verhalten.

STANDARD: Sie sprechen von unserem Wunsch nach einer Sonderrolle.

Rathkolb: Die Zielsetzung ist immer, die zentralen Entwicklungen der Welt auf Österreich hinprojizieren. Etwas, das ich Solipsismus nenne. Schwarzenegger ist unser Governor in Kalifornien!

Diese permanente Selbstüberschätzung ist aber heute ein Problem, weil nämlich Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union sind Ergebnisse eines lang andauernden intensiven Networkings, vor allem auch der Kleineren.

STANDARD: Wieso ist das so, wir sind eigentlich die Konzilianten, die Deal-Maker. Der amtierende Bundeskanzler ist das Paradigma eines Deal-Makers.

Rathkolb: Ich glaube, das hängt mit der Widersprüchlichkeit der österreichischen Identität zusammen, also diese permanente Ambivalenz, diese zwei Seelen, die in unserer Brust virtuell schlagen.

Und momentan haben wir, glaube ich, eher das Problem, dass unsere zweite Seele, also die nach innen gewandte, die andere ziemlich unterdrückt und es auch verhindert, ein wenig mittelfristig und langfristig zu planen.

Also zum Beispiel die Fragen Wissenschaft und Forschung oder Literatur – die stehen im nationalen Ranking ganz unten. Die Finnen machen das nicht nur bei der Bildung viel besser.

STANDARD: Gibt es aber Ihrer Meinung nach Errungenschaften, auf die man als Österreicher mit gutem Gewissen und auch ohne Arroganz stolz sein kann?

Rathkolb: Für mich wirklich ein Wert, den ja viele Österreicher spüren, ist sicher die Entwicklung eines relativ funktionierenden sozialen ökonomischen Systems nach 1945. Also dieses andere österreichische Wohlfahrtsmodell, das sehe ich als einen großen Wert, der uns sehr positiv unterscheidet beispielsweise von Entwicklungen in den USA. Da können wir stolz sein. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.5.2005)