Das Zerschellen der Zukunft an der Selbstgefälligkeit der Macht. Nina und Kolja, verkörpert durch Annamária Láng und Zsolt Nagy.

Foto: Festwochen

Der junge ungarische Regisseur Árpád Schilling zeigt mit seinem Budapester Ensemble Krétakör bei den Wiener Festwochen Tschechows "Möwe" ("Siráj") in einer intensiven Aufführung, die auf Bühne und Kostüm verzichtet.

Wien – Gespräch beim Kartenspiel: "Sind Sie froh, dass Ihr Sohn Schriftsteller ist?" – "Stellen Sie sich vor, ich habe noch nichts von ihm gelesen. Ich hatte nie die Zeit."

Und noch ein Gespräch: "Was schreiben Sie da?" – "Mir ist ein Sujet eingefallen. Ein Sujet für eine kleine Erzählung: am Ufer eines Sees lebt von klein auf ein junges Mädchen, eines wie Sie; es liebt den See wie eine Möwe, ist glücklich und frei wie eine Möwe. Doch da kommt ein Mann, sieht es und stürzt es aus Langeweile ins Verderben, so wie diese Möwe."

Kleine Geschichten der Gleichgültigkeit; zwei junge Menschen werden an ihr zerbrechen. Der ungarische Regisseur Árpád Schilling (Jahrgang 1974) gastierte mit seiner Budapester Gruppe Krétakör und Tschechows Komödie Die Möwe (Siráj) bei den Wiener Festwochen. Bereits vor einigen Wochen hatte Schilling im Kasino des Burgtheaters mit Shakespeares Hamlet ein Stück inszeniert, in dem eine junge Generation an der Indifferenz der Älteren zugrunde geht.

Dort Ophelia und Hamlet – hier Nina und Kostja. Hatte er in Hamlet³ die üppige Zahl der Shakespeare-Charaktere auf drei Schauspieler verteilt, spielte Krétakör im winzigen Vestibül in voller Besetzung. Beide Male jedoch: in Straßenkleidern, ohne Bühne. Die Schauspieler saßen in Jeans und Pullover, kaum als solche erkennbar, in der ersten Reihe. Nichts ahnend nahm das Wiener Festwochen-Publikum zwischen ihnen Platz. Und wurde Zeuge, wie aus dem Nichts – durch Sprache, Körperhaltungen, Gesten, in seiner Mitte Tschechows Möwe zum Leben erwachte.

Der sicheren Distanz der Differenz, wie sie Bühne und Kostümierung herstellen, beraubt, näherte sich Tschechows ländliche Komödie dem Publikum so weit an, dass der Zuschauer bei manchen Szenen peinlich berührt den Blick abwandte, des eigenen Voyeurismus unangenehm bewusst.


Resignation

Eine Verwechslung, die sich nicht zuletzt dem intensiven Spiel der Darsteller schuldete. Zumal die jüngsten unter ihnen – Annamária Láng (Nina), Zsolt Nagy (Kostja), Lilla Sárosdi (Mascha) – erspielten den Träumen, Hoffnungen und der zunehmenden Resignation und Verzweiflung ihrer Figuren eine Wahrhaftigkeit, die auch vor der räumlichen Nähe des Publikums bestehen konnte. Aber auch Eszter Csákányis handfeste Arkadina und der von der Berliner Schaubühne nach Budapest gewechselte Tilo Werner, als unsinnlicher Intellektueller eine Projektionsfigur der jungen Nina, Sándor Terhes als abgeklärter Arzt Dorn: Das intensive Spiel der Truppe, die in der freien Theaterszene Budapests zu Hause ist, lässt hoffen, dass Schilling, wie einst Fassbinder mit dem von ihm gegründeten Münchner antitheater mit Hanna Schygulla und den anderen jungen Darstellern, weitere intensive Funken aus der Zusammenarbeit schlägt.

Die nahtlos mit der Realität verfließende Enge etwa lässt an Fassbinders erste Filme denken, an Katzlmacher, und die niemals den Blick über den engen Horizont der Figuren hinaus freigebende Kameraperspektive. Das Ensemble für solche Experimente hätte Árpád Schilling. Auch die Begabung, offenbar auch die Wut. Bleibt abzuwarten, ob das heutige Theatersystem mit seinen Festivaleinladungen und lockenden Gastverpflichtungen eine ähnliche Konzentration der Arbeit zulässt. Spannend wird eine weitere Begegnung mit Árpád Schilling allemal. (DER STANDARD, Printausgabe, 08.06.2005)