STANDARD: Nach dem Nein der Franzosen und der Niederländer hat Großbritannien das Referendum auf unbestimmte Zeit verschoben. Was für Folgen wird das haben?

Smolar: Das ist praktisch das dritte Nein zur Verfassung. Damit verstärken die Briten den negativen Dominoeffekt, ohne selbst eindeutig Nein gesagt zu haben. Wir müssen nun damit rechnen, dass auch die Luxemburger und Dänen Nein sagen werden.

STANDARD: Ging es den Briten darum, noch vor dem EU-Gipfel nächste Woche vollendete Tatsachen zu schaffen?

Smolar: Eindeutig. Das ist geradezu typisch für die Briten, dass sie nicht auf den gemeinsamen Gipfel und die Diskussion aller warten. Tony Blair, der seine politische Karriere nicht mit der EU-Verfassung verbinden will, schiebt alle Schuld Franzosen und Niederländern zu und wäscht selbst seine Hände in Unschuld. Mit der Aussetzung des Referendums kann Blair für den wahrscheinlichen negativen Ausgang nicht mehr verantwortlich gemacht werden. Innenpolitisch geschickt, europapolitisch ein Fiasko.

STANDARD: Werden die Briten also die EU in eine Sackgasse steuern, wenn sie am 1. Juli die Präsidentschaft übernehmen?

Smolar: Zunächst einmal geht es ihnen darum, das Kräfteverhältnis in der EU zu verschieben. Großbritannien will sich auf Kosten von Frankreich und Deutschland größeren Einfluss sichern.

STANDARD: Was kann der Gipfel nächste Woche ausrichten?

Smolar: Die Verfassung ist nicht mehr zu retten. Eine Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses würde die Agonie nur in die Länge ziehen. Ich halte das für gefährlich. Wachsender Pessimismus in Europa ist das Letzte, was wir brauchen können. Schon jetzt ist ja der Euro unter Druck geraten. Der Gipfel könnte versuchen, die Situation zu entdramatisieren, indem die Verfassung aufgesplittet wird und sie dadurch den Verfassungsrang verliert.

STANDARD: Wie das?

Smolar: Der Kardinalfehler war, dieses Vertragswerk überhaupt "Verfassung" zu nennen. Diese pompöse Bezeichnung führt die Bürger in die Irre. Sie müssen annehmen, dass mit der Verfassung auch ein EU-Staat entsteht. Das ist aber nicht der Fall.

STANDARD: Wie kommen wir aus der verfahrenen Situation wieder heraus?

Smolar: Am wichtigsten ist eine schnelle Entscheidung. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Vertrauen in die EU und damit auch in den Euro weiter sinkt. Das hätte Instabilität zur Folge. Denkbar sind verschiedene Lösungen. Zum einen die Konzentration auf die eigentlichen Verfassungselemente, verbunden mit einem echten politischen Akt, wie es ein allgemeineuropäisches Referendum wäre, wo dann tatsächlich die Mehrheit aller EU-Bürger entscheidet und nicht jede Nation einzeln. Eine solche Lösung würde den europäischen Gedanken stärken, die Menschen mobilisieren und Hoffnung geben.

Möglich ist auch der umgekehrte Weg: die Entdramatisierung der Situation, das Bekenntnis der Politiker zum Fehler, ein EU-Vertragswerk "Verfassung" genannt zu haben. Eine Denkpause, vielleicht über die Sommerferien. Und dann ein neuer Anlauf, in dem die Verfassung in zwei oder drei Verträge aufgesplittet wird und wie ganz normale EU-Verträge in den Parlamenten ratifiziert wird.

STANDARD: Das hört sich ganz einfach an. Aber ist das auch fair gegenüber Franzosen und Niederländern, die zur Verfassung Nein gesagt haben, und gegenüber den Nationen, die noch nicht abgestimmt haben?

Smolar: Franzosen und Niederländer haben aus Gründen Nein gesagt, für die es keinen Kompromiss gibt, jedenfalls nicht auf Verfassungsebene. Das hat keinen Sinn mehr. Die anderen Nationen über etwas abstimmen zu lassen, was ohnehin nie in Kraft treten wird, ist Heuchelei. Die Politiker sollten endlich den Mut zur Wahrheit haben. Einen normalen Vertrag können die Bürger eher akzeptieren, weil er bei Bedarf neu verhandelt und abgeändert werden kann. Fatal wäre, wenn wir jetzt in Resignation verfallen und alles weiterlaufen lassen wie bisher. Was wir brauchen, ist Dynamik und ein sichtbarer politischer Wille. (DER STANDARD, Print, 8.6.2005)