Brüssel - Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) signalisierte vor Beschluss des EU-Sondergipfels im Juni 2006 unter österreichischer Präsidentschaft seine Zustimmung für eine Nachdenkphase in der Frage der EU-Verfassung. Es werde "sicher eine Phase der Reflexion brauchen", sagte Schüssel zu Beginn des EU-Gipfels in Brüssel vor Journalisten. Schüssel will dadurch allerdings nicht automatisch die Ratifizierung der Verfassung auf Eis legen. Die Idee sei vielmehr, "eine aktive Phase der Reflexion" einzuleiten, betonte er.

Zahlreiche Mitgliedstaaten, so der Kanzler, seien für einen solche Phase der gemeinsamen Reflexion - auch wenn einige andere den Ratifizierungsprozess fortsetzen wollten. Der Luxemburger Präsidentschaft gehe es aber ohnehin nicht darum, den Ratifizierungsprozess gänzlich zu stoppen, betonte Schüssel.

Schon am Vortag hatte Schüssel betont, dass der Ratifizierungsprozess grundsätzlich nicht vorzeitig beendet werden sollte. Es sei "wichtig in einem demokratischen Willensbildungsprozess, dass jeder einmal seine Meinung sagt". Gemäß der bestehenden Verträge hätten die Staaten nach dem vorjährigen Beschluss der 25 Staats- und Regierungschefs bis November 2006 Zeit, die Verfassung anzunehmen, so der Kanzler am Mittwoch.

Früherer Bundeskanzler Vranitzky sieht "geringe Chance" für EU-Verfassung

Der frühere Bundeskanzler Franz Vranitzky (S) sieht nur noch eine "geringe Chance" für das Inkrafttreten der bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung. "Das ist aber nicht das größte Problem", sagte Vranitzky am Donnerstag in einem Interview mit der "ZiB2" des ORF. Man werde sich wieder zusammensetzen können und einen neuen EU-Vertrag ausarbeiten können.

Die EU-Regierungschefs dürften aber nicht glauben, die beiden negativen Referendumsvoten ungeschehen machen zu können, indem sie den Beitritt von Bulgarien und Rumänien aufschieben. Frankreich und die Niederlande würden "morgen genauso abstimmen", auch wenn die Erweiterung um die beiden Länder verzögert würde.

"Vertrauenskrise" in Union, weil Bürgern keine wirklichen Angebote gemacht werden

Grund für die "Vertrauenskrise" in der Union sei vielmehr die Tatsache, dass die Staats- und Regierungschefs keine Lösungen für die Probleme der Bürger hätten und "ihnen nicht wirklich ein Angebot machen", wie angesichts des internationalen Konkurrenzdrucks verfahren werden soll. Die Staats- und Regierungschefs "sausen ununterbrochen herum und in Wirklichkeit erledigt sich kein Problem", kritisierte Vranitzky die zahlreichen Spitzentreffen in kleinerem Kreise. Die Bürger, die nicht grundsätzlich "EU-negativ" seien, würden sich daher von der Union abwenden.

Dabei sei die EU als "größter Wirtschaftsraum" der Welt in Wirklichkeit "die Antwort auf die Globalisierung". Sie müsse ihre Marktkraft einsetzen, um "vorwärts gehen" zu können, forderte Vranitzky. Zum EU-Finanzstreit sagte er, es sei "der helle Wahnsinn", dass im jüngsten Kompromissvorschlag die Ausgaben für Forschung und Entwicklung gekürzt werden sollen. Darin liege nämlich die Zukunft der europäischen Wirtschaft.

Trotz mehrmaligem Nachfragen mied Vranitzky offene Kritik an seinem Nachfolger als SPÖ-Chef, Alfred Gusenbauer. Dieser hatte sich jüngst mit seinen Forderung nach Neuverhandlung der EU-Verfassung, einem Erweiterungsstopp sowie einem Beharren auf Ausgabenkürzungen in der EU den Vorwurf eingehandelt, das BZÖ "rechts zu überholen". Vranitzky sagte dazu, das Rechtsüberholen jeglicher Partei ist für die SPÖ "der falsche Weg". Es gehe darum, in der europapolitischen Debatte "vorwärts zu schreiten und nicht zurückzugehen". (APA/red)