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Der britische Dirigent Sir Simon Rattle (50) über seine Berliner Philharmoniker: "Ich mag sie, wir lachen viel. Ich bin sicher, ich treibe sie mitunter zum Wahnsinn - sie mich übrigens auch."

Foto: APA/EPA/Herbert P. Oczeret
Ein Gespräch über Herbert von Karajan, die Salzburger Osterfestspiele und Rattles Sommerpläne.


Entsetzt ist er nicht. Dass man ihm, der nun an die drei Jahre den attraktivsten Posten des globalen Klassikdorfes bekleidet, ein Resümee zu seiner bisherigen Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmoniker abringen will, lässt Sir Simon Rattle jedoch ein bisschen emotionell werden: "Ein Resümee? Ich bin ja noch nicht tot!", entschlüpft es dem Briten. Und so versucht man ihn in jene Zeit zurückzuführen, als der Berliner Job noch nicht angetreten war, sich bei Rattle aber Erwartungen aufgebaut hatten, aus denen wohl etwas geworden sein muss.

"Ich glaube, man kann gar nicht wissen, was das für ein Job wird. Was ich sagen kann: Ich mag sie, wir lachen viel; ich bin sicher, ich treibe sie mitunter zum Wahnsinn. Sie mich übrigens auch. Aber da sind Zuneigung und Kommunikation. " Rattle hat auch vorher nie die Erfahrung gemacht, "dass ich ein Orchester nicht motivieren muss. Die Gefahr ist eher, dass man sie übermotiviert. Wie alle großen Musiker wollen sie jedoch wissen, warum sie etwas tun sollen. In England, in Amerika sagen die Leute: ,Warum erzählst du uns das? Sag uns einfach, was du willst.'"

Rattle ist zum Berliner Kandidaten durch seine Tätigkeit mit dem Birmingham Symphony Orchestra geworden, das er im Laufe von 18 Jahren in jene erste Liga geführt hatte, wo die Berliner eigentlich immer schon waren. Aber nur um das Niveau, das Claudio Abbado hinterlassen hat, zu halten - dafür haben sie ihn nicht geholt:

Tradition als Basis "Sie suchten jemanden, der ihnen etwas Neues bringt. Ich will diese fantastische Tradition halten und über sie hinaus neue Sachen aufbauen. Es ist heikel und so, wie Bruno Walter es gesagt hat: ,Man kann nicht von Erinnerungen leben.' Ich kann den Musikern auch nicht sagen: ,Denkt an Karajan!' Viele sind erst knapp über 20. Auch sind viele Nationalitäten vertreten."

Was die Arbeit noch spannender macht: "Sie suchen bei Probespielen die ungewöhnlichsten Typen. Ich bin überzeugt, dass wir Leute engagieren, die andere Orchester ablehnen würden." Rattles Repertoirepläne brauchen natürlich Individualität - vor allem auch stilistische. Neben dem, was man zentrales Repertoire nennen könnten, will er auch Barock und Modernes.

"Toll, dass es Spezialensembles gibt, wir wollen sie nicht ersetzen. Aber wir würden etwas verlieren, wenn wir nicht sehen, was alles Musik sein kann. Wenn Orchester heute keinen Bach spielen, wird bei ihrem Bruckner etwas fehlen. Für mich gibt es keine Trennung zwischen zentralem Repertoire und dem anderen. Alles hängt zusammen, wir müssen alles verstehen. Die Gefahr, uns zu verzetteln, ist da. Aber wir müssen wichtige Erfahrungen machen. Auch Karajans Brahms klang besser, nachdem er Webern dirigiert hatte. Natürlich: Nur ein Trottel würde das verlieren wollen, was dieses Orchester im Kern ausmacht."

Es muss natürlich auch das Publikum mitmachen. In Salzburg bei den Osterfestspielen, wo man Brittens Peter Grimes gab, kam man auf eine Auslastung von vergleichsweise mageren 85 Prozent.

"Wenn man Publikum verliert, wie zuletzt, ist das sehr ernst. Aber es war lustig: Eine große Gruppe von Festivalförderern aus Italien, die ihr Kommen abgesagt hatten, hörte von der Qualität der Aufführung, mietete sich einen Flieger und kam doch. Ich sagte ihnen: ,Sie hätten uns vertrauen sollen.' Und noch etwas ist kurios: Die Stadt Berlin subventioniert indirekt ein österreichisches Festival. Salzburg ist da sehr zurückhaltend."

Entspannter Sommer Dies ist aber nicht der Grund, warum Rattle bei den Festspielen im Sommer mit den Berlinern nicht mehr als die zwei traditionellen Konzerte absolvieren wird. "Die Berliner haben eine sehr lange Saison. Es ist wichtig, dass sie sechs Wochen Urlaub haben. Sie haben ja einen Vertrag, der keine freien Tag vorsieht. Das ist sehr hart. Ich werde heuer viel in Salzburg sein, werde aber nicht arbeiten. Ich habe ja plötzlich eine neue Familie bekommen." Was heißt: Rattle, mit der Mezzosopranistin Magdalena Kozena liiert, ist just zu den Osterfestspielen wieder Vater geworden.

Keinesfalls aber war dies der Grund, warum er das Angebot, auch die Sommerfestspiele zu übernehmen, abgelehnt hat. Schon rein zeitlich wäre da kein Zusammenhang herzustellen, und die Existenz eines Angebots will Rattle auch nicht direkt bestätigen. Mehr als ein ironisches "Sie haben mit vielen gesprochen" ist ihm nicht zu entlocken.

Stattdessen aber jene Gründe, warum er die Doppelbelastung Salzburg/Berlin für unbewältigbar hält: "Was zu Karajans Zeiten möglich war, ist heute unmöglich. Keiner realisiert, dass Karajan in Berlin nur sechs Programme dirigiert hat. Er lebte in Salzburg. Die Welt hat sich verändert, das ist ein Fulltimejob. Ich habe Mortier bewundert. Manchmal ärgerte man sich über ihn, aber das Festival war voller Leben."

Außerdem gibt es am CD-Sektor noch einiges zu tun. "Wir haben das Glück, bei EMI fünf Produktionen jährlich machen zu können. Auch Modernes wie Messiaen. Im Gegenzug bittet man mich eben, Carmina Burana aufzunehmen. Das war Spaß, ist aber kein Stück für jeden Tag. Natürlich: Karajan hat 20 bis 25 Platten pro Jahr gemacht." (DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.06.2005)