Alles eine Frage des Rahmens: Unser Bild "Wien I., Singerstraße, 1962" stammt von Franz Hubmann und ist dem wunderbaren, im Christian Brandstätter Verlag erschienenen Band "Franz Hubmann. Photograph" (€ 39,90) entnommen. Das Buch leistet mit 300 Fotografien (vom Hawelka in Schwarz-Weiß bis zu intensiven, farbigen Naturfotografien) und fünf interessanten Textbeiträgen ausgewiesener Kenner die Chronik eines halben Jahrhunderts fotografischen Schaffens des Magnum-Mitbegründers, der im vergangenen Jahr 90 Jahre alt wurde. Ein schönes, unaufdringliches Buch über und für diesen stilbildenden Fotografen.

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In der Reihe der "Pléiade" erscheint der oberste französische Literaturkanon gebunden. Wo in der Regel erst ein abgeschlossenes Gesamtwerk eine zeitlose Gültigkeit zugeschrieben erhalten kann, bildet die Aufnahme zu Lebzeiten eine bemerkenswerte Ausnahme. Dies Schatzkästlein der poetischen Grandeur präsentierte 1989 und 1995 die zwei Bände der uvres complètes von Julien Gracq, der in Saint-Florent-le-Vieil als Louis Poirier zur Welt kam und heute fünfundneunzigjährig dort, in diesem winzigen Anjou-Städtchen über der Loire, lebt.

Seinen Dichternamen wählte er in Anspielung an Stendhals Julien Sorel und an die römischen Plebejer, die Gracchen, somit als Liaison von Roman-Fiktion und antiker Geschichte. Die deutschen Romantiker und - es sei nicht verschwiegen - Ernst Jünger schätzt er, den Surrealisten stand er nahe. Über André Breton hat er eine breite Studie verfasst, und dieser verstand Auf Schloß Argol, den ersten, 1938 veröffentlichten Roman von Julien Gracq, als surrealistische Bearbeitung romantischer Mythen. Aus dem Literaturbetrieb zog sich der Professor für Geographie 1951 zurück, nachdem er dessen Mechanismen, Jury-Taktierereien sowie Vulgarisierungen heftig kritisiert und darob für Das Ufer der Syrten den renommiertesten Preis des Landes, den Prix Goncourt, abgelehnt hatte.

Dieser abgeschiedene Klassiker gilt vielen als der größte lebende Schriftsteller, jedenfalls als der beste zeitgenössische Stilist französischer Feder, und Pierre Michon etwa erklärte, dass in seiner, der "mittleren" Generation alle auf Gracq geschielt hätten. Bei Michon selbst geht eine Passage von Vie minuscules (2004 auf Deutsch als Leben der kleinen Toten) auf Gracqs Lettrines zurück. "Lettrines" sind die ornamentalen Buchstaben am Kapitelbeginn mittelalterlicher Handschriften - damit zeichnet Gracq eine hohe Pforte zu seiner poetischen Topographie, die er in den kleinen Parzellen und großen Zusammenhängen seiner "Hefte" präsentiert: Vor Carnets du grand chemin, dem 1992 publizierten letzten Buch von Gracq (auf Deutsch 1996 Der große Weg), ist Lettrines in zwei Bänden 1967 und 1974 erschienen; der erste kam im Droschl-Verlag als Witterungen I heraus und erntete einhelliges Kritikerlob. Die stilistisch äußerst ausgereifte Prosa hat Dieter Hornig, Träger des Europäischen Preises und des Österreichischen Staatspreises für Übersetzung, kongenial ins Deutsche gebracht.

Von seiner Hand stammt, entsprechend, nun auch Witterungen II. Julien Gracq gestaltet eine literarische Landeskunde und Geisteswanderung, eine Erinnerungs- und eine Natur-Prosa, Lektürereisen und Reiseerzählungen in kurzen Stücken. Es ist ein Festhalten, eine Anfang der siebziger Jahre formulierte Memoria von Landschaftsgefühlen und Gefühlslandschaften: Szenen aus Kindheit und Jugend an der Loire, der Studienzeit in Nantes und Paris, den Soldatenmonaten und der Nachkriegszeit; Topographien und Träume und literarische Bewanderungen. Durch Frankreich geht es kreuz und quer, besonders an die Küsten und Ufer, schließlich in die USA, dann nach Spanien, Portugal, England und Skandinavien. Sieben Zwischentitel verleihen den selten mehr als ein, zwei Seiten langen, freilich weit darüber hinausreichenden Abschnitten einen Zusammenhalt, ohne eine Struktur aufdrängen zu wollen: "Wege und Straßen", "Ephemeriden", "Literatur", "Entfernungen", "Seestücke", "Amerika", "Europa".

Dies sei ein Buch, das "vagabundiert", meint Michel Murat 2004 in seiner lesenswerten Studie über Gracq, die einen ebenso praktischen wie einlässlichen Zugang zum Gesamtwerk bietet. Murat sieht Lettrines II als Rekomposition der Gracqschen Landschaft, als Erotisierung der Beziehungen zu den Orten. Das sprachliche Bild bringe (voneinander) entfernte Realitäten (einander) näher, versehe eine alltägliche Welt mit Zeichen.

So ersteht beim Blick aus dem Pariser Fenster eine "kleine Oberwelt", bis auf die Lichtverhältnisse durchdrungen: Wenn die Sonne lotrecht auf die Mauern fällt, hebt "ein kreidiges und hartes Licht" die Dächer "scharf vom Himmel ab, dessen Rand malvenfarben wird; ein vertikales und dürres Licht, das die Schatten auffrisst und mir durch meine Vorhänge hindurch und auch ohne jeden direkten Blick meldet, dass der ödeste und feindlichste Moment trocken und hart auf die Stadt herabprasselt wie auf einen verlassenen Steinbruch".

Gracqs Vergleiche, Metaphern, Bilder sind meist von tiefgreifender Präzision, von eindringlicher Schärfe, bisweilen künden sie von einer Magie der Schönheit. Eine einsame südfranzösische Hochebene vermittelt "die Vorstellung des verlorenen Gartens", sie ist dem Betrachter, "sooft sie sich vorausahnen lässt, hartnäckig mit diesem Eindruck eines bescheidenen und silberhellen Aufblühens verbunden: Wandert man durch solche Landschaften, hat man den ganzen Tag das Gefühl, es sei zehn Uhr morgens." Und an der Westspitze der Bretagne besteht im Blick auf das Meer der mächtige, romantische Wunsch, "nur mehr dorthin zu gehen, wo die Sonne eintaucht." Es ist dem Reisenden, der auf dem Papier mit der Feder nachwandert, um Imprägnierung, also um Eindrücke sowie Reflexion zu tun. In "das Land eingesponnen" trägt er "gleichsam wie Blütenstaub etwas von der Substanz mit und verleibt es sich ein."

Julien Gracq, der in Die Form einer Stadt 1985 eine innere Topologie von Nantes in Verbindung mit seinen Kindheits- und Traumspuren gestaltet, scheint derart auf Orte fixiert und von ihnen, im Doppelsinn, auszugehen, dass er von einem Bertolucci-Film einzig das Dorf in der Po-Ebene beschreibt, den Schau-Platz eben, und dass er in Stendhals Italienreise-Bericht ausdrücklich den Mangel an Landschaft vermerkt.

In diesem Rahmen seiner wundersamen Beobachtungen verweist Gracq selbst auf dichterische Einprägungen, liefert er eine verstreute Poetik in Kernsätzen. Der Gedankenerzähler notiert "wie sehr die sich entfernende Erinnerung durchlässig wird für eine literarische Fiktion, vorausgesetzt diese ist nachhaltig im Bewusstsein anwesend und passt zufällig in eine abgenutzte und durchgewetzte Nische des Gedächtnisses, welches dann ohne weiteres bereit ist, sich von ihr flicken zu lassen."

Zu den beeindruckenden Erinnerungen dieser Lettrines gehören die Geschäftsausfahrten des Vaters, der die Region - die hügeligen Mauges südlich der Loire- bis in die kleinen Weiler mit Kurzwaren und Kurzweile belieferte. Wie in anderen Szenen nimmt hier eine Nostalgie Platz, die Sehnsucht nach einer Art Ursprünglichkeit: "Es lag in der noch nicht motorisierten Kindheit das lebhafte Gefühl eines Niemandslandes", das "magische Gefühl der Reise, das immer ein Gefühl der Überschreitung ist, schwebte über diesen verschwimmenden und rätselhaften Rändern."

Der zurückgezogene Dichter äußert sich von einer erhabenen Warte aus. Bei aller Tiefenschärfe fällt er allerdings bisweilen einem Kulturpessimismus anheim, der im Jahre 1973 in der Welt keinen großen Künstler mehr erkennen mag. Derlei Geringschätzung erscheint mir weniger bedenkenswert als bedenklich, vor allem wenn sie sich an eine Herrenreiterattitüde, an Ernst Jünger und Oswald Spengler anlehnt. Die "reaktionäre Position", wie Murat sie beschreibt, geht einher mit Gracqs Abneigung gegen den Existenzialismus, auch gegen den "modernistischen" Kanon Flaubert - Proust - Joyce, der zum Niedergang des Romans geführt habe. Und so sieht sich Julien Gracq zwar auch in der Medienlandschaft um, bietet er etwa Klug-Amüsantes über die Fernsehübertragung des Eisenhower-Begräbnisses oder der Mondlandung, bei der ihn zu seiner Überraschung dieses Gefühl heimgesucht habe: "die geschlossene, sofort wiederhergestellte Intimität des kleinen Flecks, auf dem der Mensch, und sei es auch nur für einige Stunden, sein Zelt aufgestellt hat mitsamt der hängenden Wäsche, den Pfählen, der Leine." Jedoch spricht er den modernen Medien gelegentlich gewisse Dimensionen ab, wie in dem Abschnitt "Roman und Film", den er mit der abstrusen Behauptung beginnt: "Das Bild suggeriert nicht, evoziert nicht."

Witterungen II freilich ist ein durch und durch lesenswerter Band; ein langsamer Lektüreweg vermag immer wieder in magische Winkel eines ebenso zurückhaltenden wie hervorstechenden Werkes zu führen. Zurecht gilt Julien Gracq als Meister der Beobachtung und der Formulierung. Nach seinen eigenen Worten über Breton, über Stendhal: Er bringt seinen Stil in das Leben und Leben in den Stil. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.06.2005)