Alte Bäume, alte Landschaften, alte Städte, alte Menschen: lauter alte Griechenlandklischees.

Foto: Der Standard/Rottenberg

Aber auf Lesbos hat man erkannt, dass Alter gerade dann eine Qualität ist, wenn der Rest der Welt hysterisch auf "jugendlich" macht.

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Und es gibt sie doch. Aber man muss sehr genau hinschauen. Eigentlich danach suchen. Und dann - etwa wenn man zwischen wildem Wein, Efeu und allem, was sonst an der Außenseite eines Balkons rankt, wachsen und blühen kann, einen kurzen Blick auf das Privatreich dahinter erhascht -, kann der bösartige Gast triumphieren: Also doch! Es gibt sie. Zumindest einen. Gut versteckt und im privaten Reich eines Bewohners des Städtchens zwar, aber eben doch: Der Sessel existiert. Auch wenn man ihn nicht sehen kann und das daher eigentlich nichts zur Sache tut. Oder doch? Denn die Fremdenführerin und der Städtchengewaltige haben hiermit geschwindelt. Irgendwie.

Die Fremdenführerin und der Städtchengewaltige hatten sich nämlich in die Brust geworfen und - hoch auf den Zinnen der Burg über der Stadt, den Blick über die in den Hang geschmiegten Dächer und das Meer bis hinüber nach Kleinasien schweifen lassend - beteuert, dass der Ort sich selbst gegen die Begleiterscheinungen des Massentourismus immunisiert habe. Durch Bauverbote und ultrastrenge Denkmalschutzauflagen. Und durch den Verzicht auf Monoblockspritzgusssessel: Man werde, hatten Fremdenführerin und Städtchengewaltiger erklärt, in Molivos keinen der hässlichen weißen Plastiksessel finden. Das sei ein Signal.

Denn der Monoblockhocker sei schließlich auch ein Symbol: Man wolle nicht abwasch- und stapelbar sein - und lege darüber hinaus keinen Wert auf Besucher, denen es gar nicht auffällt, wenn vor der Taverne, am Hafen oder auf der Frühstücksterrasse der Herberge charme- und seelenloses Plastikzeugs stünde. Möbel, deren Austauschbarkeit sich - wie ein Geschwür - binnen kürzester Zeit auf jeden Ort überträgt. Genau deshalb, hatten die Fremdenführerin und der Städtchengewaltige gemeint, gebe es in Molivos keine weißen Plastiksessel. Und damit setze die malerische 1000-Seelen-Stadt am nordöstlichen Ende von Lesbos konsequent das fort, was rund 70 Kilometer weiter südlich, am Flughafen von Mytilini, der Hauptstadt von Griechenlands drittgrößter Insel, beginnt: Anderswo hätte man angesichts der offensichtlichen Strandpotenziale und der daraus resultierenden Ratschläge von Nächtigungszahlenmaximierungsökonomen schon vor zehn Jahren die Kapazität des Flughafens erhöht. Aber auf Lesbos ist man gar nicht unglücklich, wenn der kleine Airport schon bei eineinhalb großen Charterfliegern am Vorfeld an seine Kapazitätsgrenzen stößt: Nadelöhr oder Drosselklappe? Das ist Ansichtssache - aber dem Wesen und dem Reiz der Insel schadet es nicht. Ganz im Gegenteil.

Denn auch wenn Lesbos eine authentisch-griechische Insel ist...

... gibt es Unterschiede zu anderen, ebenfalls typisch griechischen Eilanden. Vielleicht wegen der Berge. Eventuell wegen Geo- und Ornithologie. Wahrscheinlich wegen der Größe. Auch wegen der Lage. Bestimmt wegen der Geschichte. Und ganz sicher wegen des Namens. Die Sache mit dem lesbischen Lesbos, sagen die Menschen hier - ob sie nur zum Schutz vor blöden Bemerkungen statt "Ich bin ein Lesbier" meist "Ich komme aus Mytilini" sagen, ist unklar - ist nämlich überzogen. Sicher lebte, lehrte und liebte Sappho im sechsten vorchristlichen Jahrhundert hier. Aber deshalb die Insel heute "Lesben-Reiseziel" zu nennen - in manchen Führern finden sich verklemmt-hechelnde Umschreibungen wie "Reisende vom lila Ufer" - greift zu kurz. Auch wenn Lesbos für allein oder zu zweit reisende Frauen wohl entspannter ist als manche "maskuline" Mittelmeerdestination.

Aber egal ob Männlein oder Weiblein: Es ist im Grunde die Schönheit der Natur und ihre Abgeschiedenheit, die den Reiz der Insel ausmachen: Seien es die heißen Quellen, die nahe Molivos den Strand zum Thermalbad machen. Oder die dramatisch-bizarren Lavasteinblöcke im Landesinneren. Oder die mächtigen, nachgerade surreal anmutenden versteinerten Baumstämme eines vor etwa 20 Millionen Jahren von Vulkanasche erstickten, "versteinerten Waldes". Oder die ornithologische Artenvielfalt im gebirgigen Inselinneren, das - nur nebenbei - auch durchtrainierte Mountainbiker und geübte Wanderer vor durchaus anspruchsvolle Aufgaben stellt.

Oder einfach die Ruhe: Abgesehen von Vogelkundlern, Bikern und Wanderern begegnet man etwa im nordwestlichen Teil der Insel vor allem Menschen, die hier leben. Und die sich von Touristen - noch - nicht aus der Ruhe bringen lassen: Nicht jedes Klischee ist böse - und jenes vom unter einer mächtigen Platane im Schatten sitzenden alten Griechen, der den Tag vorbeiziehen lässt, vorgelebt zu bekommen ist schon recht nahe an jenem Bild, das im Katalog im Kopf unter "echt griechisch" firmiert. Aber nur dann, wenn der alte Mann unter der Platane nicht auf einem Plastiksessel sitzt. (Der Standard/rondo/24/06/2005)