Ob es der Schrecken der Natur wie beim Tsunami zum Jahreswechsel oder menschengemachter Horror wie bei den Bombenanschlägen des 7. Juli in London ist: Im Augenblick der Krise strömen Menschen ins Internet, um das Erlebte mitzuteilen, nach Nachricht und Trost von Freunden, Angehörigen und Unbekannten zu suchen.

Schnell

So auch am Donnerstag in London: Während die Kameras von TV-Sendern und Fotoreportern erst wenige spärliche Bilder des Geschehens vermitteln konnten, begannen bereits hunderte Augenzeugen, ausgestattet mit Handykameras und Internetanschlüssen, ihre Bilder und Mitteilungen auf Weblogs­ und per E-Mail in alle Welt­ zu verbreiten. Websites wie Flickr.com, ein Bilderdienst von Yahoo, und in der Folge von britischen Medien wie BBC und dem Guardian veröffentlichten die ersten Bilderund Videoclips vom Chaos in dunklen U-Bahn-Röhren, von abgesperrten Straßen und des zerbombten Busses, aus der sicheren Distanz eines Büros fotografiert.

Gesammelt

Viele der Augenzeugenberichte, die von britischen Medien veröffentlicht wurden, wurden mithilfe von E-Mails und Internet gesammelt – der Guardian richtete ebenso wie die BBC dafür eigene Websites ein, die sich rasch mit persönlichen Berichten, Kommentaren und Informationen zum Stand der Dinge füllten. Londonist.com protokollierte die laufenden Ereignisse, während andere Websites wie vinari.co.uk/lb Listen von Überlebenden zu veröffentlichen begannen. Wie überhaupt viele Blogs Nachrichten der Art enthielten: "An meine Familie – es geht mir gut." Auf london.metroblog.com beschrieb ein Vater aus Australien, wie er vergeblich seinen Sohn am Handy zu erreichen versuchte, der als Fahrradbote in der von einem Attentat betroffenen Station King's Cross unterwegs war. "Wir haben schließlich eine wunderbare Textnachricht von ihm bekommen – dem Himmel sei Dank für SMS."

Bilder des Tages

Viele der Autoren bemühten sich auch um journalistische Distanz und "objektive" Berichterstattung, wie bei­ Wikinews.org, eine Art "Open Source"-Medium, das von freiwilligen Reportern beliefert wird. Der Fotojournalist Cian O'Donovan verwendete seine Handykamera und Flickr.com, um Bilder des Tages zu veröffentlichen, wo sich im Laufe des Tages auch hunderte Bilder von Amateuren sammelten und nach Stichwörtern wie "London Bomb Blast Pool" und "London Explosions Pool" organisiert wurden.

E- Mail-Verkehr verdoppelt

Auch die Nutzungszahlen zeigten, wie wichtig für eine große Zahl von Menschen das Internet bei aktuellen Ereignisse geworden ist. Innerhalb einer Stunde nach den ersten Nachrichten von den Attentaten verdoppelte sich der E- Mail-Verkehr, berichtete MessageLabs, eine Internet- Sicherheitsfirma. Zwischen neun und zehn Uhr (Ortszeit) wuchs die Zahl der von MessageLab überwachten Mails von 500.000 auf eine Million, erklärte der Antivirenspezialist Alex Shipp gegenüber dem Onlinedienst CNet. "Wir wissen natürlich nicht, was das für Nachrichten waren, aber wir nehmen an, dass es vielfach um Messagesging wie 'Bist du o.k.?' oder 'Hast du die Nachrichten gesehen?'", erklärte Shipp.

Besucheransturm

Bei fast allen Online-Newssites wie BBC, BSkyB oder der Financial Times kam es aufgrund des Besucheransturms am Donnerstagvormittag zu Verzögerungen oder Unterbrechungen, berichtete eine Internetfirma, die Webverkehr beobachtet. Die BBC zählte am Donnerstag die meisten Leser, seit sie Onlinenachrichten publiziert; Sky News hatte mit 1,7 Millionen Besuchern so viele Zugriffe wie sonst in einem Monat.

Kritik am angeblichen Voyeurismus

Es ist wohl der einzigartige Mix aus professionellem Journalismus, direkten Veröffentlichungsmöglichkeiten für tausende Benutzer, Tempo und Spontaneität, die das Internet wie geschaffen für solche Megaereignisse erscheinen lassen. Und auch wenn Kritik am angeblichen Voyeurismus geäußert wird, wie nach der Veröffentlichung zahlreicher Tsunami-Videos, so überwiegt bei einer Tour durch die Onlinelandschaft nach den Bombenanschlägen eindeutig Anteilnahme, Nachrichten, Hilfeangebote oder Information über die banalen Dinge des Alltags wie die Verkehrssituation in London.

Werkzeuge Kamerahandys und Internetzugang

Die Werkzeuge für die Arbeit der Amateurreporter sind heute in fast jeder Jackentasche vorhanden: Kamerahandys und Internetzugang an zahlreichen öffentlichen Orten. Vom Subjekt zum Objekt der Berichterstattung ist dann nur noch ein kurzer Weg.(Helmut Spudich, DER STANDARD Printausgabe, 9. Juli 2005)