Cover: Lolita lesen in Teheran
Aus Achtung vor den Armen wählt der junge Reza Hajatpour im Iran in den Siebzigerjahren die Ausbildung zum islamischen Geistlichen. Seine Mutter würde ihn gern als Beamten sehen. Aber dieser Stand zeichnet sich für ihn durch Ignoranz der sozialen Probleme aus. Reza Hajatpour sieht sich auf der Seite des Volkes, er ist gegen die Diktatur von Schah Reza Pahlavi, und weil die Mullahs auch gegen den Schah sind, sind die Fronten vorerst geklärt. Mit dem Sieg der Revolution im Iran in den Jahren 1979/80 aber verwirren sich die Verhältnisse hoffnungslos, und Reza Hajatpour muss alle Loyalitäten seines Stands neu befragen.

Die Autobiografie "Der brennende Geschmack der Freiheit. Mein Leben als junger Mullah im Iran", in der er auf diese für sein eigenes Leben wie für den Iran insgesamt entscheidenden Jahre zurückblickt, ist bereits aus der Perspektive des Emigranten geschrieben. Reza Hajatpour arbeitet heute als Iranist an der Universität Bamberg. Sein Bericht erscheint nun wie eine indirekte Antwort auf viele Fragen, die sich der Weltöffentlichkeit nach der überraschenden Wahl von Mahmud Ahmadi-Nejad zum iranischen Präsidenten stellen. Reza Hajatpour geht noch einmal zurück an den Anfang der Revolution, die im Iran inzwischen ein klerikales Machtsystem auf Dauer gestellt hat. Er erinnert sich an die undifferenzierte Lage in den späten 70er-Jahren, als viele verschiedene Fraktionen nur ein Ziel hatten: den Umsturz. "Kommunist oder gläubig oder wie du sonst sein magst: In einer Diktatur ist dies ein und dasselbe."

Als der Schah aus dem Land getrieben wird, und mit Ayatollah Khomeini eine islamische Autorität an die Macht kommt, erscheint dies zuerst auch Reza Hajatpour als der richtige Weg: "Viele Iraner, vor allem viele junge Theologen, waren der festen Überzeugung, daß Khomeynis Ziel dem der Heiligen Imame der Schia entspräche, nämlich die Herstellung der Gerechtigkeit. Demokratie werde die Diktatur ersetzen." Die Enttäuschung dieser Hoffnung beschreibt Reza Hajatpour in einer indirekten Form, indem er seine eigene intellektuelle Desillusionierung protokolliert. Er tut sich schwer, die Theologie als einzige Erkenntnisquelle zu akzeptieren. Aber er verfügt nicht über die Kategorien, aus diesem System hinauszutreten. Die im Westen geläufigen Formen von Subjektivität und Gewissensfreiheit sind ihm nicht vertraut.

Er arbeitet sich in der islamischen Theologie allmählich nach oben, sieht zugleich aber immer argwöhnischer die Praxis der Mullahs, die im revolutionären Iran "für alles verantwortlich sind". Die radikale Linke und der reaktionäre Klerus kommen immer wieder im Hass auf den Westen, vor allem auf die USA, überein. Reza Hajatpour lässt sich vorschnell auf eine arrangierte Ehe ein, heiratet später heimlich ein zweites Mal, und erregt allmählich das Misstrauen seiner Freunde in Ghom, der Stadt der Theologen. Er kommt vor ein Revolutionsgericht, wird freigesprochen, meldet sich freiwillig für den Dienst im Krieg gegen den Irak, kommt mit dem Leben davon, und endet als Dorfgeistlicher im bitterarmen Norden des Iran.

Von seinen Erfahrungen erzählt er in einer Sprache, die noch erkennen lässt, welch weiten Weg er aus dem Iran an eine deutsche Uni zurückgelegt hat: "Dieser Moment war für mich ein Augenblick der Dürre, die mich in einen zeitlosen Schmerz versetzte, als ob ein Dolch in meinen Augen stecken bliebe", schreibt er über den Tod seines Bruders im Krieg.

Keine Distanz

Der eigentümliche Ton dieses Buchs, das bis zum Ende nicht einfach auf Distanz zu einem überwundenen Glauben geht, sondern die tiefe Prägung durch die integristische Form des islamischen Denkens nicht aufgibt, fällt besonders auf neben einer anderen Neuerscheinung dieses Sommers: Lolita lesen in Teheran von Azar Nafisi enthält eine durchaus ähnliche Geschichte, allerdings aus weiblicher Perspektive und bereits durch einen doppelten Emanzipationsprozess geprägt. Die Autorin, eine Universitätslehrerin aus dem iranischen Bildungsbürgertum, fand in der Lektüre anglofoner Klassiker von Vladimir Nabokov bis Henry James ein Modell für weibliche Autonomie und für moderne Individualität.

Lolita lesen in Teheran

Auch Azar Nafisi schreibt aus der Perspektive des Exils. Sie lebt inzwischen in Washington, D.C., wo sie an der Johns Hopkins University lehrt. Ihr Buch, das 2003 erschienen, ist in den USA ein Bestseller. Auch ihr Bericht beginnt in den Siebzigerjahren mit der Opposition gegen das Schah-Regime. Sie studierte damals in den USA, kehrte aber 1979 nach Teheran zurück (ihr Vater war früher Bürgermeister der Hauptstadt gewesen) und begann, an der Universität englische Literatur zu unterrichten.

Die kontroverse Stimmung veranschaulicht sie durch einen "Prozess", bei dem ihre StudentInnen über das Buch "Der große Gatsby" von F. Scott Fitzgerald zu Gericht sitzen. Während ein radikaler Student darin nur die Moral des "großen Satans" Amerika erkennt, finden andere TeilnehmerInnen des Kurses zu einer differenzierteren Haltung. Das Lesen selbst als experimentelle Identifikation wird zu einer Schlüsselerfahrung der Aufklärung. Azir Nafisi deutet dies aber nur an, denn ihr Buch ist in erster Linie eine sehr konkrete Schilderung des Lebens im revolutionären Iran.

Die Schleierpflicht für Frauen wird zum großen Streitfall, und wieder kommen die Linken mit dem Klerus gegen alle Prinzipien der Demokratie überein. Die bürgerliche Massenbewegung unterliegt der Gewalt des Regimes, das sich durch "terreur" konsolidiert. Azir Nafisi verliert ihre Stelle an der Universität von Teheran, weil sie sich weigert, den Schleier zu tragen. Später fügt sie sich doch, und beginnt an einer anderen Hochschule wieder zu unterrichten. Während des Kriegs gegen den Irak bekommt sie zwei Kinder, und sie liest mit ihren Studenten Daisy Miller von Henry James. Die bürgerlichen Heiratssachen des 19. Jahrhunderts erweisen sich den Problemen der Frauen im fundamentalistischen Iran überraschend nahe. Aber nur in seiner Erfahrung des Ersten Weltkriegs bekam Henry James einen ähnlichen Einblick in die Schrecken der Conditio humana, wie sie Azar Nafisi aus dem Iran beschreibt.

Jenseits des Hauptstudiums, auf dem Weg zur theologischen Selbstständigkeit, schreibt Reza Hajatpour, gibt es eine Stufe der Beschäfti- gung, die "dars-e kharedj" heißt - "außerhalb des Buches". Sie führt zu einer gedanklichen Freiheit, die neben der islamischen Rechtsgelehrtheit häufig ohnmächtig bleibt. Das Buch Der brennende Geschmack der Freiheit ist deswegen so interessant, weil viele Erfahrungen des Autors eigentlich "außerhalb des Buches" liegen. Sie sind schwer zu kommunizieren, und die Sprache, mit der der Autor aufgewachsen ist, ist tief religiös und poetisch gefärbt, während das Deutsche, in dem er nun schreibt, nicht seine Muttersprache ist. Nicht zufällig bleiben die außerordentlichen Erfahrungen von Reza Hajatpour ein wenig vage. Der Krieg ist für ihn kaum eine körperliche Erfahrung (wie selbst für Azar Nafisi, die fern der Front nachts ihre Kinder bewacht, während in Teheran die irakischen Raketen einschlagen), sondern eine Station auf seinem Weg zum "Horizont des Lebens". Die Freiheit, die er auf dem Fluchtweg über die Türkei erreicht, ist seinem Buch diskret eingeschrieben. Azar Nafisi hingegen verfügt souverän über die Beschreibungsregister, die sie den Büchern entnommen hat, über die sie unterrichtet. I

Beide Bücher vermitteln mit gleicher drängender Deutlichkeit, welch geringen Spielraum die individuelle Freiheit im Iran hat. Reza Hajatpour bekommt die Ursachen dafür besser in den Blick, unterlässt es aber, diese ausdrücklich zu benennen. Sein Buch würde sonst zu selbstreflexiv modern werden, und damit zu schnell das System wechseln. Azar Nafisi setzt die Differenz der Gesellschaftssysteme bereits als verstanden voraus. Sie kann sich in beiden Bereichen gleichermaßen bewegen. Die schiitischen Kleriker sieht sie vor allem als Gegner, während Reza Hajatpour diese Gegnerschaft mit sich selbst austragen muss. (DER STANDARD, Print, 9./10.7.2005)