Friedrich Georg Jünger in seinem 70. Jahr. "Das Innigste der berührenden Erkenntnis ist: die Wahrnehmung des sich entziehenden Unberührbaren", schrieb Jünger in "Gedächtnis und Erinnerung". Er starb am 20. Juli 1977 im Alter von 78 Jahren in Überlingen.

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Dem Fortschrittlichen ist alles vorläufig. Es hat keine Wurzeln und kann keine Wurzeln schlagen, weil ihm jeder Aufenthalt nur Station ist, von der es wieder ins "Neue", Ungekannte und zu Erforschende aufbricht, sodass sein eigentliches Ziel und seine Bestimmung das Unterwegssein ist. Das Fortschrittliche hebt Bestimmungen und Grenzen auf, auch dort, wo "im Namen des Fortschritts" neue (vorläufige) Grenzen gezogen werden, weil es seinem Wesen nach selbst grenzenlos ist. Es zerstört jede Art von Bestand, um sich sein Unterwegssein zu sichern. Wo einst Relationen herrschten, ist dem Fortschrittlichen heute "alles relativ".

Wem aber "alles relativ" ist, dem ist nicht zu trauen. Oder wir sagen: "Er ist relativ vertrauenswürdig", das heißt: bedingt, das heißt: "unter gewissen Umständen." Also kommt es auf die Umstände an.

Wo dem Einzelnen im Fortschrittlichen Unglücksfälle zustoßen, wo er scheitert, ist er immer ein Opfer der Umstände (die vermeidbar sind). Wo er erfolgreich ist, und nicht nur "Glück gehabt" hat, verdankt er es meist seiner Geschicklichkeit, das heißt: der Nutzung der Umstände, der optimalen Anpassung an die Umstände. Das Fortschrittliche ist ständig umstanden von Meinungen, Vorstellungen, Traditionen und Bestehendem, die es zu überwinden gilt. Anders als im Widerstand ist es gar nicht denkbar.

"Man kann immer etwas verbessern", sagt Friedrich Georg Jünger, und gemeint ist, dass mit dem Bessermachen noch nichts getan ist, vor allem nichts "Neues", denn wenn wir die Verkehrswege verbessert haben, die Gesetze und die Schulen und den Staat, dann können wir mit dem Verbessern gleich wieder von vorne anfangen und weiterverbessern ins Endlose. Das Fortschrittliche kann aber immer nur am Verbessern interessiert sein, weil es selbst nichts hervorbringt. Das bleibt dem Schöpferischen und den schöpferisch tätigen Menschen überlassen.

"Auch hat der Begriff des Neuen", schreibt Friedrich Georg Jünger, "der von der äußeren Relation abgenommen wird, etwas Kindliches und Kindisches, wie es denn für ein Kind in diesem Sinne mehr Neues gibt als für einen Erwachsenen." Allgemein herrscht der Eindruck, dass, wenn es keinen Fortschritt gäbe, das Leben stagnieren, ja absterben würde. Dem Fortschrittsgläubigen scheint der Sinn und Zweck menschlichen Lebens darin zu liegen, in der Entwicklung technischen Geräts zur Kontrolle des Lebens und seiner Bedingungen immer weiter fortzuschreiten, wobei die Erfüllung nicht in einem Absoluten, in einem erreichbaren Ziel liegt, sondern in dem Fortschreiten der Entwicklung per se. Damit ist er aber schon in einer Sackgasse angelangt, denn, wie die Praxis zeigt, schließt gerade dieser Fortschritt Entwicklung aus, weil er das Neue, Ungekannte gar nicht zulassen kann, wenn es nicht zugleich den grenzenlosen Fortschritt garantiert.

"Zu etwas Neuem", schreibt Friedrich Georg Jünger, "komme ich dort, wo ich mein Verstehen zerbreche. Daraus entsteht Nichtverstehen, aus dem Zerbrechen des Nichtverstehens aber, wo immer es gelingt, immer etwas Neues. Dieser ganze Vorgang aber spielt sich in Gedächtnis und Erinnerung ab." Und weiter: "Von der Wahrnehmung ist auszugehen. (. . .) Was ein Pedant und Kleinigkeitskrämer verwahrt, kommt als Pedanterie und Kram wieder. Ein solches Denken kann nicht erwarten, daß ihm aus dem Gedachten und Erinnerten etwas zukommt, das es nie verwahrt hat."

Ist damit etwas "Neues" gesagt? Nein. Schon Martin Heidegger schrieb in Der Ursprung des Kunstwerkes: "Jedermann bemerkt leicht, daß wir uns im Kreise bewegen. Der gewöhnliche Verstand fordert, daß dieser Zirkel, weil er ein Verstoß gegen die Logik ist, vermieden werde. Aber diesen Weg zu betreten ( . . .) und auf ihm zu bleiben, ist das Fest des Denkens."

Also scheint es auch ein Leben jenseits des "Fortschritts" zu geben, Entwicklung, die nicht forciert ist und das Beständige nicht bedroht. Ich sage das Beständige und nicht "das Bestehende" - damit sind zum einen auch Bestände und Ressourcen gemeint, die erschöpft und vernichtet werden, zum anderen aber soll hier nicht der Stagnation, der Erhaltung des Überkommenen und Hohlgewordenen das Wort gesprochen werden. Das Fortschrittliche will diesen Wandel, und es will ihn fortwährend. Das aber ist unmöglich, und in der Realität sind wir längst in dieser Sackgasse angelangt; dass unsere Fortschrittskonzepte nichts taugen, sehen wir, und dass ein Wandel notwendig, ja unumgänglich ist, wissen wir. Aber wir müssen uns eingestehen, dass unsere Mittel, unser Denken der "Fortschrittlichkeit", nicht dazu taugen, diesen Wandel herbeizuführen - auch wenn es noch zehn, zwanzig Jahre dauern kann, bis das "Fortschrittliche", das nichts hervorbringen kann und nur von vorhandenen Ressourcen zehrt, diese Ressourcen tatsächlich erschöpft hat. Deshalb ist abzusehen, dass die Verteilungskämpfe härter werden, dass sie auf Kosten des Menschen und der Menschlichkeit gehen und jede Verbesserung nur in jeweils neuen Anpassungen an die Umstände, die man selbst verursacht hat, bestehen werden; also in Rationierungen jeder erdenklichen Art und der Verteilung und Umwälzung des Mangels auf immer breitere Bevölkerungsschichten.

Diese Folgen aber sind seit hundert Jahren bekannt und beschrieben. Nicht zufällig wurden hier die Namen Friedrich Georg Jünger und Martin Heidegger genannt, andere wie etwa Romano Guardini ließen sich hinzufügen, und alle sind sie "verdächtig", als konservativ und politisch dem "rechten Lager" zugerechnet zu werden. Dass sich deshalb ihre Lektüre nicht lohnt, könnte aber nur einem ausgemachten Ignoranten und Parteikopf einfallen, besonders in der aktuellen Situation und vor dem besprochenen Hintergrund.

Von einem von ihnen, Friedrich Georg Jünger (1898-1977), soll hier eingehender die Rede sein. Meist genügt es schon zu erwähnen, dass er der Bruder Ernst Jüngers war, um mit verächtlichen Blicken gestraft zu werden (die Sippenhaftung war noch nie überwunden). Besser Informierte werden ihm vorhalten, dass er sich 1916 als Kriegsfreiwilliger meldete (als Achtzehnjähriger) und 1926 sein erstes Buch mit dem Titel Der Aufmarsch des Nationalismus erschien sowie dass er in dieser Zeit einige Artikel für nationalrevolutionäre (ja, das Nationale war auch einmal revolutionär - man glaubt es kaum) Zeitschriften verfasste. 1934 erschienen in Ernst Niekischs Widerstands-Verlag mit großem Erfolg seine "Gedichte". Ernst Niekisch (Ettikett: Nationalbolschewist) wurde 1937 verhaftet und der Verlag geschlossen.

Friedrich Georg Jünger, im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, wird im Zweiten Weltkrieg nicht zur Wehrmacht eingezogen und verbringt die Kriegsjahre in ländlicher Abgeschiedenheit in Kirchhorst und Überlingen. Zweimal wird er in diesen Jahren von der Gestapo verhört. Als nach dem Krieg für jeden Autor dessen politische Unbedenklichkeit durch den Nachweis des Entnazifizierungsverfahrens erbracht werden musste, gelingt das nicht ohne Schwierigkeiten. Sein Verleger, Vittorio Klostermann, schreibt: "Bei Friedrich Georg Jünger, in den zwanziger Jahren bekannt wegen seiner national-konservativen Haltung ( . . .) bedurfte es umfänglicher, vom Verlag eingebrachter gutachterlicher Stellungnahmen - z. B. des Hinweises, dass er nicht der Reichsschrifttumskammer angehört hatte -, bis der Veröffentlichung seiner Werke zugestimmt wurde. Es war nicht leicht, den Behörden 1945 inexplizite Widerstandshaltungen während der Nazizeit zu verdeutlichen, wie sie etwa in dem berühmten Gedicht "Der Mohn" und in seinem Buch Die Perfektion der Technik enthalten sind."

Die Perfektion der Technik gilt als Friedrich Georg Jüngers wichtigstes Buch. Es hätte 1942 erscheinen sollen, jedoch wurde einmal der bereits fertige Satz und ein anderes Mal die gesamte gedruckte Auflage bei einem Bombenangriff vernichtet. Es ist mittlerweile in der siebten Auflage erschienen und - seltsam genug - in seiner (Technik-)Kritik aktuell wie kaum ein dieser Tage erscheinendes Buch. Der Autor weist in diesem Buch darauf hin, "daß der rationale und schließlich global-totalisierende Einsatz der technischen Mittel irrationale Folgen zeitigt, den Raubbau an der Natur ebenso wie den an genuin menschlichen Qualitäten. (. . .) Der technische Progress bedeutet zugleich eine menschliche Regression (homo crepitans), der die Wirtschaft und die Politik gleichermaßen vernichtet" (Vittorio Klostermann).

Wenn hier von Kritik die Rede ist, dann muss bemerkt werden, dass Friedrich Georg Jünger in seiner Kritik nie polemisch wird. Die Perfektion der Technik etwa ist nicht technik- oder fortschrittsfeindlich geschrieben, sie hat nur die Technik und den technischen Fortschritt zum Gegenstand der Untersuchung, und diese Untersuchung ist sehr genau, nichts ist ungeprüft übernommen. Sein Autor ist kein Heilsverkünder, sondern, genau genommen, Diagnostiker. Ihm ist weniger an praktikablen Lösungen gelegen als an Erkenntnis. Schon Aristoteles sagt, dass der Rang des Wissens umso höher ist, je weiter er sich von jedem praktischen Nutzen entfernt. Das ist heute, wo alles auf den Nutzen abzielt, schwer zu vermitteln. In Gedächtnis und Erinnerung (1957) ist diese Erfahrung so formuliert: "Die Erkenntnis ist immer Berührung. Was könnte sie anderes sein. Wo wir nichts erkennen, berühren wir nichts. Wo wir aber erkennen, berühren wir das seinem Wesen nach Unberührbare. Es weicht vor der Wahrnehmung in ein Unergreifbares, Unbegreifbares aus. Das Wissen wird so zum Weg der Armut. Und es kann auf keinem anderen Weg erworben werden. Das Innigste der berührenden Erkenntnis ist: die Wahrnehmung des sich entziehenden Unberührbaren."

Friedrich Georg Jünger war kein Revolutionär, er war kein Originalgenie und Wunderkind, aber er ist, wie ich es bezeichnen würde, ein Mensch des Maßhaltens, nicht der Mitte, sondern der Angemessenheit. Die Lektüre seiner Essays und Aufsätze, etwa Über das Komische (1936), Die Spiele (1953), Sprache und Denken (1962), sind immer ein Gewinn, auch dort, wo sie zum Widerspruch reizen. Wer Kerenys Mythologie der Griechen zu sprachlos und Ranke-Graves' Griechische Mythologie zu psychologisch findet, wird in Jüngers Griechischen Mythen ganz auf seine Kosten kommen. Und wer meint, Darwins Evolutionstheorie sei nicht zu kritisieren, dem sei, aus allgemeinem Anlass, Die vollkommene Schöpfung (1969) empfohlen. Ein Auszug: "Der Mensch muß es sich gefallen lassen, daß Eingeweidewürmer sich in ihm bequem einrichten, daß sie auf seine Würde, seinen Rang, auf die zoologische Stellung, welche ihm die Evolutionstheorie zuerkennt, nicht die mindeste Rücksicht nehmen. Die Annahme, daß das ,Beste' ausgelesen wird, ist zwar populär, aber aus der Luft gegriffen. Der Begriff des Besten wird durch Zweckvorstellungen bestimmt; der Zweck wird vor die Existenz gesetzt. Das Brauchbarste, Tüchtigste, Zweckmäßigste soll sich erhalten und überleben. Solche Vorstellungen, auf den Menschen übertragen, verbinden sich mit der Vorstellung des Wettbewerbs, einer Konkurrenz, die vor allem geschäftlich gedacht ist."

Die meisten Untersuchungen und theoretischen Schriften Friedrich Georg Jüngers sowie einige Gedichtbände sind im Verlag Vittorio Klostermann erschienen. Im Verlag Klett-Cotta wurden unter dem Titel: Friedrich Georg Jünger - Werke sämtliche Gedichte und erzählenden Schriften veröffentlicht, die autobiografischen Bücher Grüne Zweige und Spiegel der Jahre sowie eine Übersetzung der Odyssee, die im Nachlass des Autors vorgefunden wurde. Leider sind die Bände nicht sehr sorgfältig editiert; ab und zu erfährt man etwas zu Autor und Werk im Klappentext, nur einmal gibt es ein Nachwort, und editorische Angaben zu Erstveröffentlichungen fehlen völlig. Vergriffene Bücher - etwa: Über das Komische - kann man sich, meistens recht günstig, antiquarisch bestellen (www.zvab.com).

Dass Friedrich Georg Jünger gelesen wird, darüber besteht kein Zweifel. Und stößt man dann auf Titel wie Das Gewicht der Welt (Gespräche 1948), kann man leicht auf den Gedanken kommen, dass er vielleicht gerade von jenen gelesen wird, die nicht über ihn sprechen. (Alfred Goubran/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 7. 2005)