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Alexis de Tocqueville

Foto: Archiv
Über seine Reise 1831/32 schrieb der französische Aristokrat de Tocqueville das Werk "De la démocratie en Amérique". Seine Einsichten machen es heute noch und mehr denn je zu einer bedenkenswerten Lektüre. Zwei Einwürfe.


1. Von Gerald Stourzh, emeritierter Professor für Geschichte der Universität Wien. Im Herbst erscheinen von ihm in Frankreich und den USA zwei Studien über Tocqueville und die Idee der Gleichheit.

Der Schlossherr auf Tocqueville in der nördlichen Normandie war Aristokrat nach Herkunft und Lebensstil - obgleich er eine bürgerliche Engländerin heiratete. Doch Alexis de Tocqueville versank nicht in der Nostalgie des Ancien Régime. Sein Intellekt, seine moralische Orientierung waren auf die "neue Welt" der postrevolutionären, sich zur Demokratie entwickelnden Gesellschaftsordnung fixiert.

Diese neue Welt glaubte er am weitesten entwickelt in den Vereinigten Staaten zu sehen. Amerikas Gegenwart wäre Europas Zukunft, davon war Tocqueville überzeugt, als er 1831/32 für neun Monate nach Amerika fuhr.

Das große Gegensatzpaar in Tocquevilles soziopolitischem Denken heißt "Aristokratie" und "Demokratie". Diese idealtypischen Begriffe bedeuteten ihm keineswegs bloß ein politisches System, sondern jeweils ein Ensemble sozialer, politischer und mentaler Strukturen, charakterisiert im einen Fall durch "Ungleichheit", im anderen durch "Gleichheit". Ungleichheit bedeutete für Tocqueville nicht so sehr materielle Ungleichheit; sie bezog sich vor allem auf die erblichen Standesunterschiede des vorrevolutionären Europa. Gleichheit war in erster Linie das, was nach der Zerstörung der ständischen Privilegienordnung kam - eine postfeudale Gleichheit.

Aber ist es alles? Nein. Das Wegfallen erblicher Privilegierungen und Diskriminierungen hat nicht nur juristische, sondern auch mentale Konsequenzen. Tocqueville zeigt, wie "Herr und Diener" im demokratischen System nur mehr vertraglich in einem Über- und Unterordnungssystem stehen, außerhalb des Vertrags jedoch "zwei Bürger, zwei Menschen" sind. Auch materielle Ungleichheiten von Reich und Arm werden durch die "imaginäre Gleichheit" der demokratischen Vorstellungswelt überdeckt.

Doch zwischen Gleichheit und Ungleichheit besteht eine Asymmetrie. Ungleichheit ist konkret darstellbar. Gleichheit, infolge ihres hohen Abstraktionsgrades, tendiert zu "immer mehr" Egalisierung, sie zieht immer neue Lebensbereiche in ihren Bann. Tocqueville hat dies gespürt und über die "post-feudale" Gleichheit hinausgehend immer wieder andere, weiter gehende Formen von Gleichheit zur Diskussion gestellt. Tocqueville war ein meisterhafter Sozialpsychologe. In einem Schlüsselkapitel "Weshalb die Amerikaner inmitten ihres Wohlstandes so ruhelos sind" schrieb Tocqueville Einsichten nieder, die 2005 ebenso wie 1840 gelten. In der Demokratie haben die Menschen "die störenden Vorrechte einiger ihrer Mitmenschen abgeschafft; sie begegnen der Konkurrenz aller". In einer (relativ) egalitären Gesellschaft wirken die "geringsten Unterschiede kränkend. Deshalb wird der Wunsch nach Gleichheit umso unersättlicher, je größer die Gleichheit ist."

Nichts als die Furcht

All dies illustriert den Primat "privater" Motivationen in der modernen Gesellschaft. Doch es kommt noch etwas hinzu: der ausgeprägte Individualismus als Kennzeichen der demokratischen - genauer der egalitär imaginierten - Gesellschaft. "Der Individualismus ist demokratischen Ursprungs, und er droht sich in dem Maße zu entfalten, in dem sich die gesellschaftlichen Zustände weiter egalisieren." Es wächst die Zahl der Menschen, die "genügend Bildung und Güter erworben oder behalten haben, um sich selber genügen zu können".

Privatisierung und Vereinzelung als gesellschaftliche Phänomene: Tocqueville war kein Analytiker verfestigter Klassengegensätze; er diagnostiziert sie zwar (in England), aber integrierte sie nicht in sein System. Umso aktueller sind seine Diagnosen in Zeiten der Auflösung der Klassen und großer Flexibilität in der individuellen Lebensgestaltung - im individuellen Lebenskampf, muss man wohl heute sagen.

Privatisierung und Vereinzelung leisten der Machtergreifung anonymer Mächte Vorschub. Tocqueville weiß das. Gleichheit muss mit Freiheit verbunden sein, sonst führt sie in die Despotie. In der Bildung freiwilliger Vereinigungen zu Themen des öffentlichen Wohls sieht er ein wichtiges Instrument zur Bewahrung der Freiheit - die Begriffe Zivilgesellschaft oder NGOs kannte er nicht, doch seine Empfehlungen zielten in diese Richtung. Und ganz wichtig schien ihm die Bewahrung des Rechts und seiner Institutionen; in Zeiten schwindender religiöser und sittlicher Überzeugungen müsse man das Eigeninteresse der Person mit dem Recht verbinden, denn sonst bliebe nichts anderes "zum Regieren der Welt als die Furcht". Die Furcht, wie Tocqueville wusste, war jedoch der Motor der ärgsten aller Herrschaftsformen, der Despotie. Aktualität Tocquevilles anno 2005? Hier ist sie.

2. Alle Bürger sind gefordert

Von Patrick Hartweg, Politologe und Vereinsobmann des Institut Alexis de Tocqueville am Wiener Zentrum für Demokratieanalyse, -projekte und Partizipationsmodelle

In Amerika ist der am 29. Juli 1805 in der Normandie geborene Tocqueville ein Säulenheiliger, im deutschsprachigen Raum ist einer der brillantesten Theoretiker der modernen Demokratie außerhalb des akademischen Bodens nicht existent.

Lassen wir ihn zu Wort kommen: "Müsste man dann nicht die allmähliche Entwicklung der demokratischen Institutionen und Sitten als das einzige, wenn auch nicht das beste Mittel ansehen, das uns verbleibt, um frei zu sein; und möchte man nicht bereitwillig die demokratische Regierung, ohne sie zu lieben, als das brauchbarste und ehrenhafteste Heilmittel ergreifen, mit dem man den heutigen Übeln der Gesellschaft begegnen könnte?"

Wie aktuell und doch so entfernt: der Bezug zwischen Demokratie und Freiheit. Unter den Ländern Europas geht es in erster Linie um Transferzahlungen von und nach Brüssel. Ins französische und niederländische Nein kann alles Mögliche hineininterpretiert werden. Die künftige Ausrichtung der Union oder gar ein gesamteuropäisches demokratisches Ordnungssystem hat man jedenfalls im Entwurf nicht vorgelegt.

Lassen wir Tocqueville fortsetzen: "Das Volk an der Regierung zu beteiligen ist schwierig, noch schwerer ist es, ihm die Erfahrung zu vermitteln und die Gefühle einzuflößen, die ihm zum guten Regieren fehlen. (...) Stimmt es aber, dass es bald keinen Mittelweg gibt zwischen der Herrschaft der Demokratie und dem Joch eines Einzigen, sollten wir dann nicht lieber jener zuneigen, als uns freiwillig diesem zu unterwerfen? Und falls man schließlich eine völlige Gleichheit erreichen sollte, wäre es nicht besser, sich durch die Freiheit als durch einen Despoten nivellieren zu lassen?"

Wie viele Menschen, besonders in islamisch geprägten Ländern, nehmen auch heute noch lieber das Joch von Despoten in Kauf, als sich auf Demokratie einzulassen? Warum verlaufen demokratische Entwicklungen (wenn es sie überhaupt gibt) in diesen Ländern so zögerlich? Damit kommt man direkt zu den Attentaten von Madrid und London. Wie gelingt es muslimischen Gemeinden in der Diaspora, sich in das demokratische System des Westens einzuklinken? Wie könnte "Erziehung zur Demokratie" als Instrument zur Integration gelingen?

Tocqueville ist bei all seiner Begeisterung für das demokratische Modell nicht blind. Er räsoniert: "Mein Ziel bestand darin, am Beispiel Amerika zu zeigen, dass die Gesetze und vor allem die Sitten einem demokratischen Volk erlauben können, frei zu bleiben. Im Übrigen bin ich weit davon entfernt zu glauben, dass wir das von der amerikanischen Demokratie gegebene Beispiel befolgen und die Mittel nachahmen sollten, deren sie sich zum Erreichen ihres Zieles bediente; denn ich verkenne nicht den Einfluss, den die Natur des Landes und die früheren Verhältnisse auf die politische Verfassung ausüben, und ich würde es als ein großes Unglück für das Menschengeschlecht erachten, wenn die Freiheit überall in der gleichen Weise verwirklicht werden müsste."

Bush, Rumsfeld und Blair waren offensichtlich nicht dieser Meinung, wie das Irak-Debakel zeigt. Wie kann Freiheit wachsen, damit demokratische Strukturen sich herausbilden können? Europa ist angesichts der Ratlosigkeit über den vorgelegten Verfassungsentwurf ebenfalls gefordert. Wie können "Gesetze und gute Sitten" den Europäern jenes Mehr an Freiheit bringen, welches schöpferische Leistung zulässt? Jede Bürgerin und jeder Bürger sind gefordert. Denn ohne die Partizipation des Einzelnen ist Demokratie nicht möglich. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.7.2005)