Literatur und Moral, Geschichte und Menschenwissenschaften organisiert der südafrikanische Autor und Nobelpreisträger J. M. Coetzee als Rollenspiel.

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Zweifler und Autorität, untersucht J. M. Coetzee in seinem Werk Möglichkeiten und Grenzen der Literatur.


Salzburg - Die Schriftstellerin Elizabeth Costello wird häufig zu Tagungen und Vorträgen eingeladen. Das Reisen fällt ihr bereits schwer. Sie ist 67 Jahre alt und fühlt sich zunehmend als Außenseiterin in der Gemeinde der gut informierten, belesenen, verständnisvollen Menschen, die ihr Publikum bilden. Elizabeth Costello wird zunehmend radikal. Wenn sie über das Problem des Bösen sprechen soll, denkt sie an die Gegenwart des Satans. Wenn sie eine Preisrede halten soll, hält sie ein Plädoyer für die Tiere, an denen täglich ein "neuer Holocaust" verübt wird. Sie ist dabei ebenso selbstgewiss wie skeptisch: "Ich weiß nicht, was ich denke", sagt sie. Sie weiß nur, dass die Literatur ihre Fragen nicht beantworten kann.

Elizabeth Costello ist eine Figur des südafrikanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers J. M. Coetzee. Zwischen dem radikalen Zweifel der fiktiven Persönlichkeit Costello und der globalen Autorität des Autors Coetzee besteht offensichtlich ein Zusammenhang. Literatur und Moral, Geschichte und Menschenwissenschaften organisiert Coetzee als Rollenspiel. Dabei geht es um jenen Ernst, der in der Postmoderne verloren gegangen war. Das Absolute ist eine Kategorie, die Coetzee nicht selber verwendet, wohl aber Elizabeth Costello in den Mund legt. Mit Bedacht hat er eine Frau gewählt, die er in den essayistischen Prosatexten der letzten Jahre rund um die Welt reisen lässt. Es fällt dadurch nicht ganz so leicht, die Figur mit dem Autor zu verwechseln. "Acht Lehrstücke" sind inzwischen entstanden, die auch bereits gesammelt erschienen sind (Elizabeth Costello. Acht Lehrstücke. Fischer 2004).


Der offene Raum

Unübersehbar ist der Unterschied zwischen der literarischen Verfahrensweise von Coetzee in seinem frühen Roman Warten auf die Barbaren (1980), der in diesem Jahr bei den Salzburger Festspielen aufgegriffen wird, und der Reflexionsliteratur rund um Elizabeth Costello. 1980, als Universitätslehrer in Kapstadt, machte Coetzee noch einen Unterschied zwischen dem Roman einerseits und seiner linguistischen Arbeit andererseits. Warten auf die Barbaren ist eine beziehungsreiche Geschichte, die in einem offenen Raum spielt.

Eine Stadt am Rande eines Imperiums, eine von der archaischen Landschaft zermürbte bürokratische Elite, und draußen ein leerer, unwirtlicher Raum, in den die Barbaren stärker hineinprojiziert werden, als dass sie daraus hervorbrechen. Das Fremde als Phantasma beschäftigt auch Elizabeth Costello noch. Ihr geht es dabei aber nicht mehr so sehr um kulturelle Fragen, sondern um metaphysische. Sie erschrickt vor der Evokationskraft von Literatur und wirft einem Kollegen namens Paul West, der einen Roman über das Attentat auf Hitler 1944 geschrieben hat, sogar implizit vor, ein Werkzeug des Teufels zu sein.

Coetzee selbst hat, vor allem in seinem berühmtesten Roman Schande (Disgrace), eine sehr suggestive Parabel über die Gewalt nach der Apartheid in Südafrika vorgelegt. Unwillkürlich nimmt man als Leser immer wieder Partei mit Elizabeth Costello und erprobt ihre Standpunkte.

Unweigerlich entsteht daraus auch die Frage nach der Selbstkritik, die Coetzee mit der Erfindung dieser Figur im Sinn hat. Das Drama der Moral ist dabei nur die andere Seite einer Dramatik der Diskurse. Der Wissenschafter Coetzee arbeitet nun im Modus der Literatur die Grundsatzfragen durch, die auf dem Grund des Schreibens liegen: Wie kann ich mich in ein Anderes einfühlen? Wie beschreibe ich Extremsituationen von innen?


Das Sein der Tiere

Und alle diese Fragen gelten für ihn auch mit dem Blick auf die Tiere. Das menschliche Bewusstsein ist zwar in der Lage, die Gattungsdifferenz zu denken, vermag aber nicht, das reine, körperliche Sein der Tiere zu verstehen, ohne in die Vorstellung von einem Automaten zurückzufallen. Die Konstellation der Intersubjektivität, für die der Roman in seinen Anfängen ein hervorragendes Medium war, wird für Coetzee fragwürdig, weil wir es häufig mit Wesen zu tun haben, die nicht denken oder so anders denken, dass sie unverständlich werden. Der Roman, das hat Coetzee übrigens auch mit Blick auf die Moosbrugger-Kapitel in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften festgestellt, steht vor diesen Problemen.

Sein Gegenstand ist damit nicht so sehr das Absolute, sondern die absolute Differenz zwischen Sprache und dem, was der Sprache und dem Verstehen nicht zugänglich ist. Der Unterschied zwischen Zivilisierten und Barbaren, mit dessen Dekonstruktion sich die intellektuelle Kultur ohnehin seit langer Zeit beschäftigt, ist dagegen vergleichsweise unwichtig, auch wenn die gegenwärtige Konjunktur des Begriffs Imperium das Gegenteil nahe zu legen scheint.

Der Grenzposten, den Elizabeth Costello zu überschreiten hat, erfordert eine Form der Identifikation, die an eine Heilige erinnert: Sie muss, in der achten und letzten "Lektion", die Frage nach ihrem Glauben beantworten. In dieser Szene ist die Literatur selbst das Gefängnis. Die deutlichen Assoziationen an Franz Kafka, der Blick auf die andere Seite (in einer Landschaft, die in einem Halbsatz beschrieben wird und an die Wüste aus dem Roman Warten auf die Barbaren erinnert), das Bekenntnis von Elizabeth Costello bewirken nur, dass die Parabel auf Dauer gestellt wird.

Es bleibt offen, ob J. M.Coetzee nicht mehr oder nur noch an die Literatur glaubt. Für die Antwort bleiben dem Autor wie dem Betrieb nur die alten Formen: Texte, Vorträge, Preisreden. Die Fron von Elizabeth Costello. (DER STANDARD, Printausgabe, 01.08.2005)