Adnan Ibrahim

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STANDARD: Nach den Londoner Attentaten gab es in Großbritannien und Frankreich Übergriffe gegen Muslime. In Österreich blieb das aus, im Herbst stehen aber in mehreren Bundesländern Wahlen an. Befürchten Sie antiislamische‑ Töne im Wahlkampf?

Scheich Adnan: Nein, die Beziehungen zwischen den in Österreich lebenden Muslimen, den Institutionen und anderen Bürgern sind wegen der staatlichen Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft sehr gut – ja sogar von Modellcharakter für ganz Europa.

STANDARD: Wo fängt Islamfeindlichkeit überhaupt an?

Scheich Adnan: Es beginnt damit, dass man den Islam auf Extremisten und Fanatiker reduziert: Das ist eine Ungerechtigkeit, eine Lüge gegenüber dem Koran. Dann gibt es die gesellschaftliche Stufe: Beschimpfungen, erniedrigende Blicke, auch physische Übergriffe. Es folgt die Ebene antimuslimischer Gesetze – nicht in Österreich, sondern anderswo – die sich speziell auf Muslime, nicht allgemein auf Terroristen, beziehen. Dabei bieten die Quellen des Islams keine Grundlage für Gewalt.

STANDARD: Nun sind aber muslimische Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation – vor allem junge Männer – oft sehr unzufrieden. Wo liegen die Ursachen?

Scheich Adnan: In der ersten Generation herrschte vor allem der Wille, sich wirtschaftlich zu etablieren. Enttäuschungen, auch intellektuelle, wurden übergangen. Erst der zweiten oder dritten Generation, die hier geboren ist und hier in die Schule geht, hat sich die Frage der Identität gestellt. Finden diese Menschen keinen Anschluss, so verneinen sie die Tradition ihrer Eltern total – oder aber sie lehnen die Gesellschaft, in der sie leben, völlig ab und werden gewalttätig. Hier treffen die Theorien Bin Ladens auf fruchtbaren Boden, der die Bürger des Westens als Steuerzahler für den Krieg gegen Muslime bezeichnet: Eine Ansicht, die zu einer schizophrenen Einstellung zu der Gesellschaft führt, in der diese Jungen leben – zumal sie, etwa wenn sie arbeitslos sind, auch aus diesen Steuern Unterstützung beziehen.

STANDARD: Vor zwei Wochen haben Sie in der Schura-Moschee in Wien eine Fatwa verkündet, wonach jeder Muslim verpflichtet ist, sofort die Behörden zu kontaktieren, wenn er oder sie von Terrorplänen erfährt. Wie waren die Reaktionen darauf?

Scheich Adnan: Niemand, mit dem ich Kontakt habe, hat diese Fatwa abgelehnt, die übrigens gleichzeitig auch in 152 muslimischen Vereinigungen in den USA ausgesprochen wurde. Die einzigen kritischen Fragen betrafen Befürchtungen, die Fatwa könnte für persönliche Rachebedürfnisse missbraucht werden. Dagegen wende ich ein, dass wir in Österreich in einem Rechtsstaat leben, der nicht auf Verdacht hin ungerechte Aktionen setzt.

STANDARD: Sie gelten als wichtiger Vertreter einer islamischen Aufklärung in Europa. Wie weit soll diese Aufklärung Ihrer Ansicht nach gehen, etwa was die Situation der Frau angeht?

Scheich Adnan: Laut Studium aller Quellen ist eine vollkommene Gleichberechtigung von Mann und Frau möglich. Auf dem Weg dorthin müssen auch konkrete religiöse Bestimmungen, die derzeit das in islamischen Staaten geltende Scharia-Recht prägen, gesellschaftlich angepasst werden. Etwa das Erbrecht oder die Regeln für Zeugenaussagen vor Gericht: Die heutigen islamischen Gesellschaften sind nicht mit den historischen zu vergleichen.

STANDARD: Kann sich diese aus dem Westen kommende Aufklärung auch auf Muslime außerhalb Europas auswirken?

Scheich Adnan: Ich bin überzeugt, die islamische Welt dürstet nach einem Aufklärungsdialog, der jedoch nur die Menschen, nicht die Regierungen der islamischen Staaten ansprechen kann. Die meisten dieser Regierungen haben einen militärischen Hintergrund und sind ohne‑ jedes Interesse an einer Auseinandersetzung mit theoretisch und philosophisch fundierten Werten. Ein Vergleich: Präsident Bush – egal wie man zu seiner Politik steht – hat 240 Berater, Machthaber in islamischen Ländern haben vielleicht vier.

STANDARD: Wie stehen Sie zum EU-Beitritt der Türkei?

Scheich Adnan: Ich bin klar dafür. Erstens gehört die Türkei geografisch zu Europa. Zweitens würde hier ein Staat mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung auf Grundlage des Respekts der Menschenrechte entstehen. Das kann modellhaft für das Hereinwachsen islamischer Staaten in die westliche Zivilisation wirken. Davon würden Europa und die islamische Welt profitieren. (DER STANDARD, Print, 13./14.8.2005)