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Der gelbe Enzian, über dessen Ernte, das Ausgraben der Wurzeln, jedes Jahr das Los entscheidet.

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Diese Installation ist ein Teil der Tiroler Landesausstellung in Galtür.

Foto: Alpinarium Galtür

Der erste Septembersonntag ist im Tiroler Bergdorf Galtür jedes Jahr ein Festtag. Nicht nur weil es der Dorfkirchtag ist, sondern weil nach dem Gottesdienst Einheimische und schaulustige Gäste in die Gemeindestube strömen, in der die Lizenzen zum "Enzian-Graben" verlost werden.

Die Wurzeln des Gelben Enzians (Gentiana lutea) sind nämlich das begehrte Grundprodukt für den echten Enzianschnaps, der mit dem gleichnamigen, aromatisierten Industriebrand ungefähr so vergleichbar ist wie ein Barolo Gaja Sperss mit den Weinverschnitten Marke "Bauerntrunk".

Als die Pflanze in den Sechzigerjahren unter Naturschutz gestellt wurde, handelten sich die Galtürer ein Privileg aus. Maximal 1300 Kilo dürfen pro Jahr "geerntet" werden, und um diese Quote gerecht zu verteilen, tüftelte die Paznauntaler Gemeinde ein besonderes Verfahren aus. Jeder Galtürer Haushalt darf sich an einer Verlosung beteiligen, bei der 13 Treffer gezogen werden, die zum Ausgraben von je hundert Kilogramm Enzianwurzeln berechtigen. Die glücklichen Gewinner bleiben in den darauf folgenden drei Jahren von der Verlosung ausgeschlossen.

Das Ausgraben der Enzianwurzeln von Anfang Oktober bis zum ersten Schneefall ist harte Arbeit, zu der Familienmitglieder, Verwandte und Freunde, mit Pickeln bewaffnet, ins Jam-, Larein- und Vermunttal ziehen. Die Ernte wird gehäckselt und eingemaischt: 100 Kilogramm Wurzeln ergeben 200 Liter Maische, aus der in zwei Brennvorgängen etwa sieben Liter Enzianschnaps gewonnen werden.

Ein Liter stellt einen Wert von 150 bis 200 Euro dar, doch kommt der Galtürer Enzian so gut wie nie in den Handel. Wer das Glück hat, ein Stamperl des würzig herben Tropfens kredenzt zu bekommen, trinkt ihn ehrfürchtig in kleinen Schlücken.

Die Enziangewinnung in Galtür ist zwar nur ein kleines und simples Detail, aber ein überzeugendes Beispiel für die Frage, wie man mit natürlichen Ressourcen umgeht, um sie zu nutzen und gleichzeitig zu erhalten. Diese komplexe Frage ist das Thema der heurigen Tiroler Landesausstellung, die derzeit an zwei Orten, in Hall und in Galtür, stattfindet und mit dem Titel "Die Zukunft der Natur" heiße Eisen berührt. Zum Beispiel: Wie ist künftig mit Verkehr, Tourismus und Energie umzugehen?

Anschauungsmaterial liefert schon die Anfahrt nach Galtür. Die Talstraße ist heute eine fast ununterbrochene Kette von Tunnels, die eine in jeder Wettersituation lawinensichere Fahrt durch das Paznauntal gewährleisten soll. Augenfällig ist auch der Ausstellungsbau in Galtür selbst, das "Alpinarium", das Teil einer gewaltigen Schutzmauer ist, die nach dem Lawinenunglück von 1999 am Rande des Dorfes aufgestellt wurde. Tunnels und Mauern sind eindrucksvolle Zeichen dafür, dass Überleben im Gebirge machbar ist, dass Mensch und Natur hier eine Zukunft haben können.

Allerdings hat das einen Preis. Wie viele sichere Talstraßen – und deren Erhaltung – wird sich die öffentliche Hand auch in Zukunft leisten? Wo werden sie gebaut? Nur dort, wo sie sich wirtschaftlich rentieren? Oder auch dort, wo sie wertvolles Kulturgut erhalten? Auf das Paznauntal bezogen stellt sich die Frage, ob die Straße wirklich wegen des naturnahen Dorfes Galtür mit seinem sanften Tourismus, seiner Revitalisierung von Almkultur oder nicht doch eher für die Fremdenverkehrsindustrie des Mega-Skiorts Ischgl errichtet wurde. Für dessen Optimierung jetzt die Lifterschließung eines weiteren, bisher unberührten Talbodens geplant ist. Die Spirale dreht sich.

Angesichts dieser Situation stellt die Tiroler Landesausstellung aktuelle Fragen: Bricht nach einer Reduzierung von Förderungen die alpine Landwirtschaft zusammen, verwaldet die Kulturlandschaft, und werden Dörfer entweder zu Freilichtmuseen oder Ruinenlandschaften? Bleibt der Nächtigungszuwachs weiterhin das Maß aller Dinge, werden Freizeit und Erlebnis nur mehr professionell inszeniert? Und schließlich: Werden sich den Wintersport in den Alpen bald nur mehr Reiche leisten können?

Es bleibt bei den Fragen. Konkrete Antworten zum Thema "Zukunft der Natur" umgeht die Ausstellung elegant. Das betrifft vor allem das heißeste Thema dieses Tiroler Sommers, den geplanten forcierten Ausbau der Wasserkraft zum Zweck des Exports. Sechzehn Optionen stellten die Energietechniker zur Wahl. Einige von ihnen berühren sensible, hochalpine Regionen wie die Rofenschlucht oberhalb von Vent im Ruhegebiet "Ötztaler Alpen", die zum Bau eines Staudamms geflutet werden soll, das Stubai im Landschaftsschutzgebiet "Serles-Habicht-Zuckerhütl" oder das Fotschertal im Ruhegebiet "Kalkkögel".

Massive Proteste regen sich. Der Deutsche Alpenverein als Grundbesitzer marschierte im Ventertal auf. In Osttirol gab es Bürgerdemonstrationen. In Neustift im Stubai predigte der Pfarrer gegen den Ausverkauf von Natur. Reinhold Messner meldete sich zu Wort.

Und die Landesausstellung? Kein Wort von alledem. Da ist das Enziangraben in Galtür dann doch ein beruhigenderes Thema.

Service

Tiroler Landesausstellung 05.
"Die Zukunft der Natur". "Das Hotel" – Salzlager Hall. "Die Mauer" – Alpinarium Galtür. Bis 6. November. Täglich zehn bis 18 Uhr (Do bis 22 Uhr).
Infos: 05223 / 5855 450; Email (Hall). 05443 / 20000, Email (Galtür). www.la05.at
Katalog zur Ausstellung: Das Hotel.
Die Mauer. Die Zukunft der Natur.
Das Buch zur Landesausstellung 05,
Tirol, Südtirol, Trentino.
Hrsg. von Martin Heller und Benedikt Erhard. Tappeiner Verlag, Lana.
(Der Standard/rondo/19/08/2005)