+++ProVon Markus Mittringer Auch wenn ich nie in eine Lene Nimptsch verliebt war, mein Tagebuch ist mir als Nachschlagewerk für Irrungen und Wirrungen unverzichtbar geworden. Weil: Die Erinnerung ist ein Hund, und selbst peinlich regelmäßige Einnahme hochkonzentrierter Ginko-Dosen ändert daran rein gar nichts. Und also schlage ich immer dann, wenn sich aktuell gerade eine Liebesangelegenheit gefährlich anbahnt, in den Herzergießungen von gestern nach, und denk mir: "Bleib lieber Klosterbruder und kunstverliebt!" Mein Tagebuch ist eine Wellnessfibel, ein Leitfaden zur fröhlichen Impotenz. Was hab ich doch gelitten unter den Spielen der Balletteuse aus dem Niederbayrischen, die schon Cabrio fuhr, als mein Puch-Clubman mir noch täglich gezeigt hat, wo der Wolf zu Hause ist? Was hab ich doch alles entbehrt, um der lokalen Punk-Queen aus dem ehemaligen Schmid'schen Elektroladen in Linz adäquat outgefittet entgegenzutreten? Was hab ich nicht alles in Lieben investiert, die sich dann ja doch nicht so recht erfüllen wollten? Im Gegensatz dazu ist mein Tagebuch echt dankbar, steht mir mit Rat zur Seite, wenn ich wieder einmal drauf und dran bin, eine Tat zu begehen, es stärkt das Sentimentalische in mir, und oft ist es echt lustig, wenn man die Eindrücke von früher mit dem vergleicht, was aus den Begehrten mittlerer Weile geworden ist. Bitte, es gibt sich nächtens gern ein wenig kantig, aber treu war es immer. Bloß, wenn ich einmal reich wär', wüsste auch mein Tagebuch keine Antwort wieso.
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Contra--- Von Doris Priesching Mein erstes Tagebuch war gelb, die erste Eintragung lautete: "Liebes Tagebuch! Zu meinem 9. Geburtstag habe ich dich bekommen. Ich bin im Sternzeichen Schütze. Ich werde alles bei dir einschreiben. Ich gehe in die vierte Volksschule. Habe mit fünf Jahren begonnen, die Schule zu besuchen. Mein Lieblingsfach ist Deutsch." Dieses Buch ist analystisch ("Der Toni hat heute wieder den Arm um meine Schulter gelegt"), euphorisch (Jippiee!!! Er war da!!!") oder streng chronologisch ("Zweimal hab' ich schon mit ihm geschmust.") Den Rest erspare ich Ihnen, Sie ahnen es ohnehin: Es kommt nichts Besseres nach. Zu dieser Zeit interessieren sich Halbwüchsige nun einmal ausschließlich für Arme, und vor allem um wessen Schultern sie gelegt werden. Reflexionen dazu sind nicht nötig und werden auch kaum unternommen. Das aufzuschreiben? Meinetwegen, aber dergleichen mag doch heute, Jahrzehnte später, keiner mehr lesen! Der Autor seinerseits möchte angesichts des sinnentleerten Geschreibsels am liebsten vor Scham im Erdboden versinken. Das zum Zuhören verdonnerte Publikum andererseits kichert vielleicht höflich. Die Peinlichkeit kann man sich sparen und das Tagebuchschreiben solchen überlassen, die das können. Die meisten können es nicht, wollen es aber nicht einsehen und tun es trotzdem. So wie ich: Meine späteren Tagebücher waren nicht mehr so bunt, dafür nachdenklicher, ich schrieb politische Analysen, sogar Lieder. Das Wiederlesen bereitete mir beinahe körperliche Schmerzen. (Der Standard/rondo/26/08/2005)