Biesczady- Nationalpark

Foto: Pressefoto Polnischer Tourismusverband

Zakopane

Foto: Pressefoto Polnischer Tourismusverband

Im Herbst, nach dem Almabtrieb der Schafe von der Hohen Tatra, widmet man sich im Süden Polens wieder der überlieferten, kunstvollen Tradition der Holzschnitzerei. Ehrfurcht vor dem kulturellen Erbe und der Erfolg des modernen Skizentrums in Zakopane scheinen den Menschen hier Recht zugeben.

"Góra" heißt "der Berg". Seine Bewohner tragen den Namen wie Edelmänner ihre Familienrüstung als Insignie eines alten Geschlechts. Auch wenn ihre Vorfahren nur Nomaden und Jäger aus dem Balkan waren. Und später arme Bauern oder Flößer auf den Strömen durch das Pieninen-Gebirge oder Waldarbeiter. Ein schweres Joch in jedem Fall. Dass sie die Herausforderung annahmen, jede Generation aufs Neue, und ein Auskommen fanden, gibt ihnen ihr Selbstvertrauen. Und ihre Sturheit.

Der Berg hier hat Wald hervorgebracht und der Wald den Schnitzer. Die langen Winter dann den Handwerker und den Künstler. Die Holzarchitektur der Goralen gehört zu den einzigartigen Schmuckstücken des Weltkulturerbes. Die Unesco hat vier Kirchen auf ihre Liste gesetzt. An ihnen und weiteren 230 traditionellen Andachtsstätten, Kapellen, Wirts- und Landhäusern, Villen, sogar Friedhöfen hat die Fremdenverkehrsförderung der Woiwodschaft Malopolskie den 1500 Kilometer langen "Wanderweg der Holzarchitektur" ausgerichtet.

Für die Goralen aber ist dies alles Alltag. Die herausgeputzten Holzkirchen sind sonntags so stark besucht, dass die Liturgie über Lautsprecher auf den Vorplatz übertragen wird. Viele Frauen und Männer kommen in ihren bestickten Trachten zur Messe. Für sie ist das keine Folklore. Dabei leben die Goralen von der Folklore heute ganz gut.

"Geschnitzter" Käse

Die Touristen schätzen nicht nur die Skipisten rund um den Wintersportort Zakopane, nicht nur Landschaft und Bergluft, sondern auch das reichhaltige Essen – hier deftige Fleischberge in Holztrögen, dort feine Küche mit frischen Zutaten. Auf keinen Fall darf er fehlen: der Oscypek, ein geräucherter Käse aus Schafs- oder Kuhmilch. Holzschalen und Zierringe während der Reife- und Räucherzeit geben ihm seine Gestalt. Die Restaurants in der polnischen Hochgebirgsregion wissen umzugehen mit den schmackhaften Produkten der Bergbewohner und den Früchten der Natur: Gegrillte Oscypek-Scheiben werden als Vorspeise auf Salat serviert, gefolgt von Schwammerlsuppe in einem Topf aus gebackenem Brot, Fleisch vom Schaf und Lamm und Rind oder frischem Flussfisch. Und keine Mahlzeit ohne Cremeschnitten oder Apfelkuchen zum Kaffee zum Abschluss.

Vor allem Polen, Ungarn und Deutsche lassen es sich in Zakopane gut gehen. Auf die 33000 Einwohner kommen jährlich drei Millionen Gäste. Die einen huldigen im nobelsten Hotel vor Ort Wellness und Sport. Die anderen erkunden in kleinen Ortschaften wie Chocholów authentische ländliche Holzbaukunst. Naturfreunde zieht's hinaus in den über 200 Quadratkilometer ausgedehnten Tatra-Nationalpark. Kletterer haben die umgebenden Hochgebirgszüge und Gipfel bis zu 2655 Meter Höhe im Visier.

Zakopane gilt als das "St. Moritz Polens" – in den heißen Monaten ein Wanderparadies für Sommerfrischler aus der Stadt; im Winter ein Ski-Mekka für alle, die etwas auf sich halten. Wo Schnee und Sonne zusammenwachsen, wälzen sich Massen durch die Flaniermeile ul. Kropówki, doch nur wenige Minuten von dem Trubel entfernt, wird es still und romantisch zwischen den kunstvoll verzierten Holzvillen. Dann wird etwas spürbar von den Anfängen Zakopanes, als Künstler und Intellektuelle in der Hirtensiedlung das Ursprüngliche suchten.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Arzt Tytus Chalubinski auf das Mikroklima in dem Bergdorf aufmerksam: Wer an Bronchialkatarrh und Atemnöten litt, erfuhr hier Linderung, Lungenkranke bekamen wieder Luft. 1886, damals noch Österreichisch-Galizien, wurde Zakopane Luftkurort. Der Ort wuchs, bescheidener Wohlstand kehrte ein. In 150 Jahren entstanden 16 Lungensanatorien – und ebenso viele Kirchen und Kapellen. Denn: keine Heilkunst ohne Glaube.

Nicht nur Holz im Kopf

Letztlich aber glaubten die Bergbewohner an das Heil des Tourismus. Nur er brachte dauerhaft Abnehmer für Lebensmittel, Schafsfelle, Wollpullover und Ledergaloschen, für Gedrechseltes und Geschnitztes. Sommers wie winters ein Einkommen für Bauern und Bäuerinnen, Handwerker und Handarbeiterinnen. Die Bauern haben Pflug und Ackergaul eingetauscht gegen Gästezimmer. Kaum eine Familie, die nicht Urlauber beherbergen würde.

Keinem Fremden aber würden die Bergbewohner je ein Holzhaus oder ein Grundstück verkaufen – schon gar nicht den Krakauern, diesen polnischen Flachländern. Dass Holz und Schnitzereien stets Blickfang bleiben, ist den Frauen in Zakopane zu verdanken: Zweimal im Jahr scheuern sie jeden einzelnen Balken mit Waschpulver und Putzlappen, eine elende Schufterei. 1980 sahen sich die Einheimischen vor die Wahl gestellt: Krankenheilung oder Tourismus. Die Blassen und Hustenden mussten schließlich weichen. Die Sanatorien schlossen ihre Pforten. Die Gesunden zogen ein und mit ihnen das Geld.

Trotz alledem: Keine Modeboutique, keine Leuchtreklame hat den wilden Charme der Goralenkultur verderben können. Die Bergmenschen strömen weiter in ihre Kirchen, die sie selbst errichtet haben, schnitzen weiterhin Madonnen und Pietàs, schmücken sich zu besonderen Anlässen mit Trachten und singen ihre alten Weisen, als müssten ihre Rufstimmen Berge erklimmen und Täler überwinden. Wie eh und je sprechen sie ihren eigenwilligen Dialekt aus Altpolnisch und Slowakisch, mit Elementen aus dem Balkan, die überdauert haben.

Manche Goralen bewegen weiterhin Flöße auf der Dunajec durch den nahe gelegenen Pieniny-Nationalpark, nur heute mit Ladungen voller Urlauber. Alles ist geblieben, wie es war. Auch wenn der Alltag der Goralen jetzt wie Folklore aussieht – und als solche gefeiert wird: Das internationale Festival der Bergfolkore in Zakopane, jedes Jahr in der dritten Augustwoche, gilt als das bedeutendste kulturelle Ereignis der Tatra-Region. (DER STANDARD, Printausgabe vom 22./23.10.2005)