Am Wochenende zu Gast in Wien: Canetti- Biograf Sven Hanuschek.

Foto: Standard/Regine Hendrich

Der in München lehrende Germanist Sven Hanuschek hat das Leben von Literaturnobelpreisträger Elias Canetti erstmals umfassend nachgezeichnet. Im Gespräch mit Ronald Pohl rührt er an das Geheimnis von Canettis Nachlass.

STANDARD: Sie haben die erste, monumentale Canetti-Biografie geschrieben. Sie konnten dafür erstmals auf den in Zürich lagernden Nachlass zurückgreifen – auf zehntausende Seiten voller Aufzeichnungen. Indem Sie aus diesem monumentalen Konvolut ausgiebig zitieren, wirkt Ihr Buch fallweise geradezu wie eine Autobiografie – Canetti wird beim eigenen Wort genommen. Ein Quantensprung in der Beschäftigung mit dem Dichter und Essayisten?

Hanuschek: Einer der ersten Kritiker nannte die Biografie auch: "Canetti unplugged". Deswegen ist das Buch ja auch so dick. Das liegt daran, dass bis dato niemand den Nachlass kennen konnte. Ich wollte natürlich möglichst viel daraus zitieren: Zugänglich ist ja jetzt der größte Teil, den kann man jetzt auch benutzen, einsehen.

STANDARD: Seit wann?

Hanuschek: Seit 2002. Es existieren 150 Schachteln, von denen sind 20 gesperrt. Das Gros kann man also lesen. Das ist so viel, dass man Jahre damit zu tun hat.

STANDARD: Canetti, der selbst ernannte "Hüter der Verwandlungen", bleibt in den zitierten Aufzeichnungen und Erinnerungsbruchstücken recht konsistent – er sieht sich selbst über 60 Jahre hinweg erstaunlich "ähnlich". Kam das für Sie überraschend?

Hanuschek: Es gibt Grundbegriffe, auf die Canetti immer wieder zurückkommt – darunter fällt natürlich auch der Verwandlungsbegriff. Letzterer bezeichnet aber auch die Vielstimmigkeit innerhalb des Werks, auch des Nachlasses, der noch einmal vielstimmiger ist als das doch sehr kontrollierte, ganz auf Konsistenz gerichtete Oeuvre. Verspieltere Seiten, andere Tonfälle. Es gibt ja auch den Nonsensautor Canetti mit dem überschäumenden Temperament. Scherze wie: "Mini-Helikopter, die auf Glatzen landen". Was machen Sie damit?

STANDARD: Kann man Canetti, den Autor der "Blendung", der "Stimmen von Marrakesch" und von "Masse und Macht", überhaupt ganz kennen? Seine fast uferlose Aufzeichnungstätigkeit hat doch allmählich das Werk "verdrängt".

Hanuschek: Das wirft eben die Frage auf nach der Sperrung von Teilen seines Werks. Das Canetti-Bild wird sich 2024, anlässlich der Freigabe nach der 30-Jahre-Frist, aber nicht so stark verändern – wenn man ihn dann überhaupt noch liest. Mögliche Revisionen werden vornehmlich seine Liebschaften betreffen – Ehekrisen zum Beispiel, die er wohl auch mit seiner zweiten Frau Hera Buschor hatte, obwohl das im Grunde eine sehr glückliche Beziehung war. Es handelt sich dabei jedoch lediglich um Retuschen, nicht um Grundsätzliches. Da bin ich eigentlich relativ zuversichtlich, weil ich versehentlich auch Teile des gesperrten Nachlasses einsehen konnte, die ich dann nicht verwendet habe.

STANDARD: Und das eigentliche Werk?

Hanuschek: Beispiele für eine Aufweichung des Werkbegriffs haben Sie bei Party im Blitz, dem vierten, dem englischen Exil gewidmeten Teil seiner Lebenserinnerungen. Er hat in einer wahrscheinlich altersdepressiven Phase ein wohl relativ fertiges Manuskript verbrannt und dann versucht, es mithilfe seiner Tochter aus den Stenogrammen zu rekonstruieren. Deswegen gibt es auch Redundanzen – er wiederholt sich gern. Tagebucheintragungen sind ja auch ein Ventil, sich abzureagieren.

STANDARD: Hat Canetti mit der "späten" Ehe sein lebenslanges Thema, den unerbittlichen Kampf gegen den Tod, nicht sozusagen aufgeweicht? Er begann doch plötzlich, über die individuelle Lebensspanne hinaus zu denken.

Hanuschek: Natürlich ist das Gründen einer Familie auch eine Überlebenstechnik. Nicht in persona zwar . . . Das ist eine relativ konventionelle Technik, aber auch dafür ist er sich eben nicht zu fein gewesen.

STANDARD: Welche Wirkungen kann Canetti auf den heutigen Leser noch ausüben? Worin bestünden, mit einem Brecht-Begriff, die "Vorschläge", die er der Leserschaft unterbreitet? Mutet nicht gerade sein Plädoyer für eine absolute Diesseitigkeit des Lebens zeitgenössisch an?

Hanuschek: Im 20. Jahrhundert sind nun einmal alle großen Systeme kollabiert, die philosophischen wie die religiösen. Er ist uns sehr nahe darin, dass er ständig mit Evidenz argumentiert, mit dem, was man sieht, liest, von der Welt erfahren kann. Wobei Elias Canetti als Vielleser natürlich ein "Papiersäufer" reinsten Wassers war. Gleichzeitig soll diese Wahrnehmung aber etwas ganz Schrankenloses sein: das Faszinosum, sich keine Denkverbote aufzuerlegen, erst einmal alles gelten zu lassen, um es zu begreifen. Unser aktuelles Wirtschaftsleben will uns ja darauf hintrimmen, dass wir mit Verlassen des Kindergartens ganz linear auf einen Lebens- und Berufsweg hinsteuern. Canetti plädiert hingegen dafür, alle in uns angelegten Möglichkeiten wahrzumachen.

STANDARD: Wobei die Ökonomie ja neuerdings für die schrankenlose Mobilität und Flexibilität ihrer Lohnabhängigen eintritt. Das perverse Gegenteil des von Canetti Gemeinten?

Hanuschek: Dann muss man die Leute wohl ermuntern, Canettis Vorschlag anzunehmen – weil sie mit einsinnigen und linearen Lebensentwürfen sowieso keine Chance mehr hätten.

Zur Person
Der in München lehrende Germanist Sven Hanuschek (41) veröffentlichte seine Biografie "Elias Canetti" im vergangenen Frühjahr bei Hanser. Am vergangenen Wochenende referierte er beim Canetti-Symposium in der Wiener Urania über "Hiroshima im Denken Canettis". Er arbeitete unter anderem über Erich Kästner, Uwe Johnson und Heinar Kipphardt. (DER STANDARD, Printausgabe vom 7.11.2005)