"Es ist wie beim Gesang: Man verliert seine Stimme schnell, wenn man seine Grenzen nicht kennt. Ich kenne die meinen. Und bleibe beim Krimi." - Donna Leon, Erfinderin des Commissario Brunetti, der seinen 14. Fall ab Juni auf Deutsch löst.

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Wien - Bisweilen packt selbst einen ausgeglichenen Charakter wie Krimi-Commissario Brunetti "die schiere Verzweiflung: Woran lag es nur, dass niemand in diesem Land bereit war, etwas für einen anderen zu tun, außer es sprang ein persönlicher Vorteil dabei heraus oder er schuldete demjenigen einen Gefallen?"

Egoismus, Habsucht, Korruption: Auch Venedig, ja selbst Donna Leons Venedig, ist nicht mehr ganz, was es vor zwölf Jahren war: Zwar verirrt sich verblüffenderweise noch immer kein Tourist ins Weichbild des beschaulichen Viertels Canareggio. Zwar komponiert Paola, die beste Ehefrau von allen und irgendwann auch Professorin an der Universität, weiterhin täglich dreigängige Menüs.

Doch außerhalb der konfliktfreien Brunetti-Idylle färbt sich der Horizont zunehmend dunkel ein. Gesichtslose Chinesen übernehmen nach und nach die Espresso-Bars und selbst Kollegen sind vor Korruption und Bosheit nicht gefeit.


STANDARD: Frau Leon, Ihr Venedig wird ungemütlicher. Touristen gibt es dort aber weiterhin erstaunlich wenige. Donna

Leon: Touristen wollen dort sein, wo es Geschäfte gibt. Vor allem Maskenläden. Gibt es keine Maskenläden mehr, gibt es auch keine Touristen.

STANDARD: Brunetti und Sie bleiben also in Venedig. Trotz der korrupten Behörden.

Leon: Ich selbst habe mit den Behörden ja kaum zu tun. Ich verdiene kein Geld in Italien, zahle keine Steuern. Aber ich lerne viel von meinen Freunden. So musste beispielsweise eine alte Dame, die Mutter meiner besten Freundin, ein 26-seitiges Formular ausfüllen, um ein wenig Geld zu kriegen für die Pflegedienste, die sie ihrer schwer behinderten Schwester leistet. Das System ist so gestaltet, dass es theoretisch Geld zur Verfügung stellt, gleichzeitig aber verhindert, dass es den Menschen gelingt, es einzufordern.

STANDARD: Sie veröffentlichen Ihre Bücher noch immer nicht auf Italienisch?

Leon: Sure. Ich will mein ungestörtes Privatleben erhalten. Selbst meine Freunde lesen meine Bücher nicht. Sie sprechen ausschließlich Italienisch - und "veneziano".

STANDARD: In England ist bereits der 14. Brunetti erschienen, wo es um die Ermordung eines somalischen Souvenir-Verkäufers geht. An welchem Band arbeiten Sie derzeit?

Leon: Vor zwei Tagen habe ich die Schlusskorrekturen zu Band 15 - einem Mord im Glasbläser-Milieu von Murano - an den englischen Verleger geschickt. Band 16 ist halb fertig, er handelt vom Handel mit Adoptivkindern. Das Baby-Buch. Und für zwei weitere Bücher habe ich Ideen im Kopf.

STANDARD: Die Brunetti-Familie und die italienische Küche nehmen zunehmend mehr Raum ein in den Büchern. Der Fall entwickelt sich eher nebenbei. Figuren tauchen auf, werden wieder vergessen. Steht der Mörder fest, wenn Sie mit dem Schreiben beginnen?

Leon: Nein. Ich starte mit einer - meist brutalen - Szene im Kopf. Das ist mein Einstieg. Nach dem Beginn sehe ich, was beim Schreiben passiert. Das ist wie Tauchen in unbekannten Gewässern. Man weiß vorher nicht, wie tief das Wasser ist. Ob man sofort mit dem Kopf auf Grund stößt oder in dunklere Tiefen vordringt.

STANDARD: Recherchieren Sie die Themen? Werden die Leser in Band 15 etwas über Glaskunst erfahren?

Leon: Ja. Diese Kunst begann, mich in der Vorbereitung meines Buchs sehr zu interessieren. Die meisten Künstler fabrizieren ihre Objekte ja nicht selbst, sondern arbeiten mit Maestri zusammen, die in oft vierzigjähriger Erfahrung alles wissen über die beste Mischung aus Sand und Chemikalien, die richtige Temperatur, das Schneiden des Glases. Die Zusammenarbeit gleicht der von Komponist und Librettist.

STANDARD: Apropos Musik. Normalerweise koordinieren Sie bekanntlich Ihre Lesereisen mit der Aufführung von Händel-Opern. Diesmal war keine im Spielplan. Genug von Händel?

Leon: Mitnichten. Letztes Wochenende war ich in Bilbao. Wo Alan Curtis' Orchester von Il Complesso Barocco ...

STANDARD: ... das Sie regelmäßig unterstützen ...



Leon: ... "Rodelinda" von Händel zur Aufführung brachte. Am 28. Jänner werden sie übrigens in Wien gastieren.

STANDARD: Im Rahmen des Resonanzen-Festivals im Konzerthaus. Und neben Händel keine Musik?

Leon: Doch. Ich höre Rameau, Monclair, Haydn und Caldara. Cecilia Bartoli sang Arien von ihm auf der CD "Opera Proibita". 200 Jahre hörte man nichts von ihm, er ist wundervoll.

STANDARD: Ein Fall für Alan Curtis?

Leon: Vielleicht, wenn ein Opernhaus sich dafür interessiert. Aber die Entscheidung liegt allein bei Alan. STANDARD: Ist die Musik in Ihrem Leben so wichtig wie das Schreiben?

Leon: Mindestens.

STANDARD: Vor allem die menschliche Stimme ...

Leon: Ja, Alan - als Dirigent - fragt mich oft: Wie war die zweite Oboe? - Oboe? Gab es zwei? Aber als Cecilia Bartoli - ich halte sie momentan für die beste Sängerin - in Zürich die Kleopatra sang, war ich in allen Aufführungen - und in allen Proben.

STANDARD: Und was sagen Sie eigentlich zum "Phänomen Anna Netrebko"?

Leon: Heute singt sie im Hallenstadion von Zürich. Vor 10.000 Leuten. Sie ist sehr schön. Und die Company hat entschieden, sie übers Aussehen zu vermarkten. Sie muss auch lernen, Nein zu sagen; man muss seine Grenzen kennen. Ich kenne die meinen. Und bleibe beim Krimi. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.11.2005)

>>> Zur Person: Donna Leon

Donna Leon

wurde 1942 in New Jersey geboren. Mit 23 Jahren verließ sie die USA, um nach Italien zu gehen und lebt seither ständig im Ausland. Statt zielgerichtet eine Karriere zu verfolgen, arbeitete sie jahrzehntelang in den unterschiedlichsten Jobs: als Lehrerin für US-Soldaten in Saudi-Arabien, an US-Schulen in China und im Iran. Seit 1981 lebt sie in Venedig. Ihr schriftstellerischer Erfolg mit den Krimis um Commissario Brunetti - Startauflage: 250.000 Stück - ereignete sich eher durch Zufall - und kam ihr vor allem insofern entgegen, als er ihr ein sorgloses Leben mit Freunden und Musik ermöglicht. (cia)