Den Wurzeln des Mythos auf der Spur, die moderne Lebenswelt beleuchtend: der rastlose Regisseur und Dichter Pier Paolo Pasolini während der Dreharbeiten zu "Medea", 1969 - mit Maria Callas als Titelheldin.

Foto: Tursi/ Pinakothek
München - Undenkbar, dass das bestürzend gewaltsame Ende eines Intellektuellen wie Pier Paolo Pasolini (1922-1975) heute kein Medienspektakel hervorriefe. Doch woher soll man die Widersetzlichkeit eines Pasolini nehmen? Wie soll man sein geradezu altmodisches Pathos verstehen, sein biederes Plädoyer für eine unverfälschte Volkskultur? Ihn, dessen Verfeinerung ein beispiellos schwieriges Werk hervorgebracht hat?

Eine kleine Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne flicht einem beinahe vergessenen Toten raschelnde Kränze. Zeigt rare Ölbilder und Zelluloidskizzen, ein schwarz-weißes Durcheinander aus Slogans, Merksätzen und Prophezeiungen. Pasolini, das meint 30 Jahre nach einem rätselhaften Tod die Rastlosigkeit einer universalistischen Zivilisationskritik, die niemals moralisch argumentierte, als sie den Verlust an Erlebnisfähigkeit beklagte.

Einer wie Pasolini ist heute rätselhafter denn je. Die EU-Kernländer sind arm geworden an solchen widersetzlichen Geistern, die es, ohne auf Beistand der "Öffentlichkeit" hoffen zu können, mit der Globalismuskultur aufnehmen.

Im Mythenschlamm

Die mit den Obszönitäten der Alltagswelt aufräumen, ohne je in das Rotwelsch des Reformmarxismus zu verfallen, obwohl sie sich auf Marx berufen und die süditalienischen Wähler der KPI meinen. Die lebenslang heimatlos bleiben - obwohl sie im Schlick der Mythen hausen, im Dunkel der Überlieferung unterkriechen, die den Sozialismus meinen, wenn sie Jesus lieben, und das Leid der Menschen sakral nachinszenieren.

In der Nacht auf den Allerseelentag 1975, als man den homosexuellen Dichter und Filmemacher verstümmelt auf einer Brache in Ostia fand, als mutmaßliches, von einem Auto mehrfach überrolltes Opfer eines halbwüchsigen Strichers, der seine Tat späterhin leugnen sollte, stürzte ein "Ankläger" vom Sockel der italienischen Öffentlichkeit.

Pasolini hatte die Figur des Einsprechers gegeben, der es auf den Titelseiten der landesweit größten Tageszeitungen mit dem Establishment der Christdemokraten ungestraft aufnehmen konnte. Pasolini bekleidete die Rolle des Staatsanwalts ohne Portefeuille. Er glaubte, nach Überwindung des Faschismus, nach der Reinstallation bourgeoiser Dominanz, für die Vitalität der Vorstadtkinder plädieren zu müssen. Für die Streuner und Knaben in den Mars-Wohnlandschaften, für die barfüßigen Gelegenheitsdiebe vor den Mietzinshäusern in den archaischen Landschaftsruinen des Südens. Denn der Dichter war auch ein Paria: Wiederholt wegen "Verführung Minderjähriger" unter Anklage gestellt, wurde er von den Kommunisten ausgeschlossen und von der rechtskonservativen Presse verfemt. Pasolini, der gewiss kein Gesellschaftsoptimist war, huldigte von nun an dem Vitalismus. Inszenierte sich selbst als Beau, der im Tweedsakko dem Fußball nachjagt und durch den Schlamm der Vorstadt trippelt, ein Bübchen glücklich an der Hand.

Der die Callas (als "Medea", 1969) zur Filmschauspielerin macht, sie ungeachtet seiner Orientierung anschmachtet wie ein Pubertierender, ihr Profil rastlos abmalt, seinen gedrillten Körper in enge Jeans zwängt, sich als sein eigener Schauspieler als Maler Giotto maskiert. Der, glaubt man dem Künstlerfreund Giuseppe Zigaina, an der individuellen Überwindung des Todes arbeitet, als wäre das Überleben ein "Body-Work-out", und die eigene Ermordung - ein Auferstehungsmythos.

Ein Thesenprodukt

Zigainas These ist, man muss es sagen, kraus. Pasolini trage dem Tod, dem großen Gleichmacher, ein "diskursives" Duell an. Er denke urchristlich. Er verabsolutiere die Ausdruckskraft seines Leibes. Er mache geltend, dass die "literarische Existenz" genau das Gegenteil der irdischen Existenz eines Dichters sei. Pasolini drücke sich, indem er sich in Ostia hinschlachten lässt, "letztmöglich" aus. Ab nun sei der "Text" des Lebens komplett. Alle "Gliedmaßen" und Knöchelchen des Werks wären nun erst, im Zusammenklingen, zu verstehen.

Doch das Dunkel bleibt undurchdringlich. Auch die von Michael Semff und Bernhart Schwenk kuratierte Schau in München weist letztlich keinen Ausweg aus der Finsternis gelehrter Spekulation.

Wiederholt haben Freunde und Weggefährten, unter ihnen der Kollege Alberto Moravia, auf Pasolinis Schaffenswut hingewiesen: Er sei noch voller Pläne gewesen. Pasolinis Märtyrertum sticht grell ab vom manischen Lebenshunger eines Verfemten, der in den statischen Bildern seiner Filmkunst die Paralyse der Verhältnisse beklagt. Dem vor der Grausamkeit schwindelt, der bei den Zeitgenossen jedoch bewusst Widerwillen erregt. Pasolini trug in der filmischen Paraphrase von de Sades Die 120 Tage von Sodom alle Praktiken der Erniedrigung wie im Bilderkoffer zusammen: Ab nun war keine Steigerung mehr möglich. Die Umformung der Lebenswelt verdankt sich dem Einsatz schleichenderer Mittel. Pasolini hat als polemischer Einzelgänger die Früchte des "Berlusconismus" verblüffend genau vorausgesehen.

Er hat die Uniformierung der Lebenswelt beklagt - der Wohlstandsgesellschaft den Verlust an regionaler Verwurzelung verübelt. Die Linke hat ihn nicht weniger offen verfolgt als die finsterste Reaktion. Doch bleibt sein Werk ein an Erkenntnissen reicher Steinbruch.

Wovon nur die Buchindustrie keine Notiz nimmt: Beschämend wenige Pasolini-Titel hält der Wagenbach Verlag, der doch sonst jeden italienischen Weinanbauacker feiert, zurzeit vorrätig. Auch die Münchner Ausstellung ist daher nicht mehr als - ein Denkanstoß. (DER STANDARD, Printausgabe, 03./04.12.2005)