Weiter Strand mit weißen Sand – und zwei Klassen von Kindern. Sihanoukville selbst besteht vor allem aus einer Straße, hinter der dann recht bald der Dschungel beginnt.

Foto: Andrea Starl

...Dabei waren die Strände des Königreiches in den 60er-Jahren als "Indochinas Côte d'Azur" bekannt, erzählt Thomas Rottenberg

Der kleine Bub verstand nicht so recht, warum das so sein sollte. Aber die Mutter – und als ihre wiederholten Zurechtweisungen nichts nutzten, auch der Vater – ließen da nicht mit sich reden: Die anderen Kinder waren tabu. Nicht alle, aber eben doch genau die, die spannend gewesen wären: Mit denen, hieß es unmissverständlich, spielen wir nicht. Reden wir nicht. Die sehen wir nicht einmal. Punkt. Der etwa siebenjährige Knabe begann zu heulen – aber es nutzte nichts.

Dabei hätten die Eltern sich die Predigt über den Paria-Status der anderen Kinder eigentlich locker sparen können: Der Versuch ihres Nachwuchses, mit jenen Gleichaltrigen Kontakt aufzunehmen, die da eifrig über den endlos langen Strand aus dem Prospekt wuselten, wäre ohnehin von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Wegen des Klassenunterschiedes. Genauer: Weil die Wusel-Kinder keine Zeit haben. Die müssen nämlich arbeiten. Verkaufen. Und zwar tatsächlich alles, was sie bei sich haben: Kokosmilch und andere Getränke, Obst und Fisch, Snacks und Backwaren, Cocktails und Bier, Kettchen und Muscheln – und sich selbst. Wobei der letzte Posten dem Sortiment für europäische, amerikanische und japanische Touristen vorbehalten ist. Und dieses Geschäft geht gut.

Am Strand von Sihanoukville

Daran ändern auch die an den Stadteinfahrten von Sihanoukville riesengroß affichierten und in Hotelaufzügen, Restaurants oder Touristenbroschüren unübersehbar angebrachten Plakate nichts. Auf denen wird darauf hingewiesen, dass Sex mit Kindern nicht nur weltweit widerlich, sondern auch in Kambodscha verboten ist. Und mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft wird. Die Drohung verpufft: Setzt man die – ebenfalls auf den Plakaten angeführte Zahl von 780 einschlägigen Verurteilungen (in welchem Zeitraum auch immer) in Relation zu dem, was einem an ziemlich schwer falsch interpretierbaren Szenen am Strand von Sihanoukville vor Augen tritt, zeigt das eher, wie ohnmächtig und zahnlos die Behörden der wohl hässlichsten Begleiterscheinung des Fernosttourismus gegenüberstehen – sogar dann, wenn sich erst herumsprechen muss, dass man hier überhaupt Urlaub-Urlaub machen kann.

Dabei war die weitere Umgebung der erst 1955 gegründeten Siedlung am südöstlichen Zipfel des Golfes von Thailand einst eine mondäne, beliebte und elegante Bade- und Urlaubsregion. Französische Ingenieure schlugen damals – Mitte der 50er-Jahre – nämlich eine Bresche in die bis dahin unbewohnte und unter dem Namen "Kampong Som" bekannte Dschungellandschaft im Süden Kambodschas. Sie bauten in Windeseile einen Hafen. Denn nachdem 1954 das einheitliche französische Kolonialgebiet "Indochina" – Laos, Vietnam und Kambodscha – zerfallen war, hatte Kambodscha keinen Hafen mehr: Der Mekong fließt zwar durch das Land, mündet aber in Vietnam. Aber bei Kompong Som, befanden französische und amerikanische Investoren, passten die Zugangsmöglichkeiten zum Wasser und ins Landesinnere. Die Franzosen bauten den Hafen, die Amerikaner die Straße nach Phnom Penh.

Bis in die 60er-Jahre boomte die Region

Der Hafen florierte und wuchs – und entlang der Küste entstanden Hotels, Restaurants und Feriendomizile. Und auch wenn heute nur noch ein paar Ruinen auf den Hügeln und im Dschungel davon erzählen, firmierte Kambodschas Südküste einst doch unter Namen wie "Indochinas Côte d'Azur" – und zog ein dementsprechendes Publikum an. Angeblich, aber so genau weiß das heute niemand mehr, soll auch die junge Brigitte Bardot hier gebadet haben.

Es waren der Vietnamkrieg und sein Umfeld (die massiven Bombardements Kambodschas firmierten in der US- Militärdiktion verharmlosend als "Sideshow"), die dafür sorgten, dass von alldem heute nichts mehr zu sehen und kaum etwas erinnerlich ist: Sihanoukville wurde von pro- wie antiamerikanischen Truppen als Waffenumschlagplatz genutzt.

Unter dem Schlächter Pol Pot war Kambodscha dann von der Außenwelt hermetisch abgeriegelt, fremde Einflüsse wurden ausradiert. Und in den der Schreckensherrschaft der Roten Khmer folgenden Jahrzehnten des Bürgerkrieges dachten weder die Khmer (so nennen sich die Kambodschaner selbst) noch Ausländer (und schon gar keine dekadenten Westler) daran, sich im Land der Tretminen in den Sand zu legen.

Aber das war einmal

Mittlerweile beginnt Kambodscha wieder, sich seiner Qualitäten zu erinnern – und die Schönheit der Strände rund um Sihanoukville ist eine davon. Die auf einer Halbinsel gelegene Stadt mit 180.000 Einwohnern ist schließlich an drei Seiten von jenem Urlaubsidyll umgeben, das ein paar Bootsstunden weiter westlich – in Thailand nämlich – Heerscharen von Rucksacktouristen immer seltener finden, je vehementer und eifriger sie danach suchen: endlose, von Palmen gesäumte Strände mit gleißend weißem Sand und türkisblauem Wasser, das den Badenden von Knöchel-zu Hüft- und Schwimmtiefe steigt. All das – und darum geht es all jenen, die mit dem "The Beach" als Glaubensbekenntnis in der Hand verzweifelt von einer thailändischen Full-Service-Bucht zur nächsten trampen, ja vor allem – möglichst unentdeckt (eigentlich eine euro- und US-zentristische Frechheit: "unentdeckt" heißt nämlich lediglich "ohne unseresgleichen"). Und zwar – dieser Sehnsucht nach dem Entdecken & Inbesitznehmen fremder Welten folgend – auch ohne all die Neben- und Folgeerscheinungen des zivilisierten Tourismus: Wer da ein bisserl über die Grenze schaut – oder beim Plaudern mit geübten Reisenden genauer zuhört – entdeckt irgendwann einmal Sihanoukville. Oder die Umgebung.

Dass die Stadt an sich wenig bis gar nichts zu bieten hat, tut dem keinen Abbruch: Die nach dem kambodschanischen König benannte Ansiedlung besteht im Prinzip aus einer breiten, asphaltierten Straße, an der sich außer Internetcafés vor allem Internetcafés befinden. Dazwischen liegen ein paar Bars (rotlicht- wie familientauglich) und Wechselstuben, kleine Restaurants und ein von einem britischen Ex-Pat (auf Deutsch: hängen gebliebener Rucksacktourist) betriebener mehrsprachiger Buchladen. 20 Meter nach den Abzweigungen von der Hauptstraße endet der Asphalt. Und eine – manchmal auch drei oder vier – Häuserzeile weiter beginnt die Landschaft. Der Dschungel. Aber urbane Qualitäten sucht man in Kambodscha – wenn man nicht gerade aus der Hauptstadt oder Siem Reap (der boomenden Hotelstadt bei den Tempeln von Angkor) kommt – ohnehin nicht.

Umwerfender Blick

Hügelabwärts, mit meist umwerfendem Panoramablick auf den Golf von Thailand, beginnt dann aber die touristische Wachstumszone: Eine Hand voll schnell aus dem Boden gestampfter Hotels (auch wenn es am Eingang anders angeschrieben ist, geht das Angebot bisher kaum über solides und sauberes Drei-Sterne-Niveau hinaus) nahe der Stadt bezeugen, dass man das Klingeln der Zeitgeistglocken hier längst vernommen hat – auch wenn es (noch) vornehmlich "Beamte" und Angehörige der neureichen Eliten aus Phnom Penh sind, die hier absteigen und "westlichen" Service genießen wollen. Aber je näher man an die großen Strände (Ochheuteal Beach, Serendipity Beach, Victory Beach, Independence Beach und Sokha Beach) kommt, umso kleiner und einfacher werden die Guesthouses und Bungalowanlagen und umso internationaler und jünger wird das Publikum.

Direkt am Strand, an den der Stadt zugewandten Enden, verstecken sich hinter der ersten und zweiten Palmenreihe dann noch einige Restaurants – doch dann dünnt die touristische Zivilisation sehr rasch aus: Die Zahl der Khmer-Familien, die für die Strandfotografen hier voll Stolz im Sand posieren, um dann – während der Woche – in der Hauptstadt stolz darauf verweisen zu können, sich bereits einen kurzen Urlaub im "Western Style" leisten zu können, nimmt sukzessive ab. Und im selben Ausmaß, wie die Wohlstandsleibesfülle der (männlichen) weißen Touristen am Strand sinkt und sich ihr Altersschnitt in Richtung Mitte zwanzig verlagert, verringert sich die Dichte der Kinder, die nicht nur Kokosmilch und Naschereien verkaufen.

Ein paar sanfte Windungen der Küstenlinie weiter ist dann der Sand weiß, das Meer türkis, die Palmen schlank und der Strand – tatsächlich – fast menschenleer. Aber dafür muss man jede Woche ein Stück weiter wandern. (DER STANDARD/rondo/9/12/2005)