Manès Sperber
Charlatan und seine Zeit
Roman.
Herausgegeben von Mirjana Stancic und Wilhelm W. Hemecke
24,90/216 Seiten. Edition Gutenberg, Graz 2005.

Er sitzt ein. Er sieht seine Freunde sterben. Einen nach dem anderen. Er selbst überlebt und führt Tagebuch. Zwei Jahre später, der Erste Weltkrieg ist vorbei, ist Iwan Semjonowitsch Sacharzoff, einst der Mitgliedschaft in einer Anarchistengruppe angeklagt, ein mit harter Hand herrschender kommunistischer Stadtkommandant im Nachkriegsrussland. Weitere vier Jahre später ist er in Wien, verunsichert und emotional aufs Tiefste aufgewühlt, aber noch immer beseelt davon, beim Aufbau einer neuen Gesellschaft zu helfen. Er bricht erneut auf, sein Ziel: die Sowjetunion.

Bereits der Romaneinstieg ist dramaturgisch geschickt gestaltet. Dabei war der Autor gerade 19 Jahre alt. Viele Jahrzehnte später wird er dann ein namhafter Romancier und renommierter Essayist sein, ein Autobiograf, Psychologe und politischer Publizist, der Verleger von Dostojewski, Hamsun, Hermann Hesse und Anne Frank in Frankreich, aber auch Kommunist, Ex-Stalinist, Gegner der Studentenbewegung, gefragter Mitarbeiter europäischer Zeitschriften, "Wunderkind" des Individualpsychologen Alfred Adler und zeitweilig dessen engster Mitarbeiter, Flüchtling und Emigrant, Atheist, Jude und Europäer, ausgezeichnet mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur, Freund und Briefpartner von André Malraux, Albert Camus, Raymond Aron und Alfred Döblin. Die Rede ist von einer einzigen Person – von Manès Sperber (1905–1984). Sein Lebensthema war die Erinnerung, waren Rekonstruktion und Evokation.)

In seinem Erstling Charlatan und seine Zeit war er allerdings noch ganz in der Gegenwart. 80 Jahre nach der Entstehung erscheint nun das Manuskript erstmals in Buchform. Vom Hörensagen, aus der Sperber-Biografie von Mirjana Stancic, bekannt, erweist es sich als erstaunlich reifer Geniestreich eines Hochbegabten. Es ist ein Zeitroman, in dem Großes verhandelt wird: Sozialismus und Kultur, Psychologie und Literatur, Liebe und das herzlose Jonglieren mit ihr, Raffinement, Verführung, Egoismus.

Sacharzoff, verheiratet mit der im Ausland lebenden Ljisa, lernt noch im zaristischen Russland Marcell Haran kennen, den "Charlatan". Dieser ist ein Vivisekteur der menschlichen Seele, ein mephistophelischer Manipulator und Charmeur, ein Getriebener und Treiben der, eine Dekadenzfigur. Im Wien des Jahres 1924 sucht ihn Sacharzoff dann wieder auf. Die magnetische Attraktivität Charlatans verleitet ihn zu einem Gefühlsexperiment. Ljisa fällt dieser Versuchsanordnung zum Opfer und bringt sich aus Verzweiflung um. Die beiden Männer brechen geläutert nach Russland auf, um dort eine neue Gesellschaft aufzubauen. Scharlatane, Wunderheiler, Hellseher, Gaukler – in der Zwischenkriegsliteratur waren sie beliebt, ob nun Madame Blavatsky oder Erik J. Hanussen, zu finden etwa bei Thomas Mann oder Hermann Kesten.

Mit Marcell Haran hat Sperber weniger eine Charakterstudie entworfen denn eine faszinierende, bezwingende Experimentalfigur. In seiner Sophisterei – "Ich liebe nicht die Wahrheit, aber ich lüge im Wichtigen" –, seiner überschäumenden Rhetorik, seinem Tempo verkörpert er das Neue und Entwurzelte, das Dynamische und Hohle. Sperber gelingt überdies eine scharfe Bestandsaufnahme des Nachkriegswien. In karikaturistischen Porträts entwirft er Revolutionäre und Bourgeois, Kaffeehausliteraten und Kartenspieler. Wieso wurde dieser Roman zu Sperbers Lebzeiten nicht gedruckt? Lag es tatsächlich daran, wie Mirjana Stancic im Nachwort nahe legt, dass Sperber den Bruch mit seinem Lehrer Adler – noch – nicht wagen wollte, der literarisches Arbeiten kritisierte? Oder erkannte er, dass er literarisch zu viel auf einmal wagen wollte, dass die seelischen Wandlungen der Protagonisten – vom grausamen Trotzkisten zum Zerrissenen (Iwan), von der blassen Kranken zur Selbstmörderin aus Scham und Verzweiflung (Ljisa), von emotionaler Leere zur altruistischen Tätigkeit (Charlatan) – zu groß angelegt waren?

Zu Anfang fällt sich Iwan, der Tagebuchschreiber in der Zelle, häufig selbst ins Wort und unterminiert solcherart als Kommentator jedes Pathos. Fast könnte man mutmaßen, Manès Sperber dürfte das Manuskript ähnlich beurteilt haben. Ist Charlatan und seine Zeit ein großes Buch? Das nicht. Aber eine beeindruckende Talentprobe. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 10./11.12.2005)