Wien - Üblicherweise verheißt der Auftritt des Veranstalters vor Beginn eines Konzertes nichts Gutes. Umso mehr war man erleichtert, als Konzerthauschef Christoph Lieben-Seutter am Samstagabend bei seinem überraschenden Kurzauftritt auf dem Podium des Mozartsaales zunächst einmal versicherte, dass der geniale Schubertmaniak Jan Bostridge und sein nicht minder ab- gründiger Klavierpartner Julius Drake schon anwesend seien und sich sogleich mit dem Programm, das sie an- gekündigt hatten, ohne jede Abänderung hören lassen würden.

Der Grund seines Erscheinens liege vielmehr in der Übermittlung eines Wunsches der beiden Gäste - nämlich innerhalb der beiden vor und nach der Pause gesungenen Liedgruppen durch keinen Applaus gestört zu werden.

Ein Wunsch, der angesichts des Schubert'schen Liedschaffen außerhalb der gängigen Zyklen gewidmeten Programms fürs Erste jedenfalls etwas erstaunlich schien, sich aber sehr bald schon als nur allzu begreiflich erwies.

Was Bostridge und Drake da - vor allem im ersten Teil dieses aufregenden Abends - vom Stapel ließen, war alles eher als eine Liederfolge im herkömmlichen Sinn. Schwer zu sagen, was diese rastlose, waghalsig bravouröse Rallye durch alle möglichen Gefilde des Liebes- und des Weltschmerzes nun wirklich war.

Liedertheater

Von Liedertheater oder auch von Schubertschamanismus könnte man sprechen. Von einer Ekstatik, die den mitunter unfreiwillig zwerchfellerschütternden Biedersinn der Texte in expressionistische Regionen rückten. Dazu braucht man zwischen den einzelnen Liedern (darunter Im Frühling, Auf der Bruck, Heliopolis I und II, Totengräbers Heimweh) keine Pausen (und erst recht keinen Applaus), dazu muss man die Nerven haben, während Julius Drake am Klavier schon das Vorspiel trommelt, aus einem bereitgestellten Glas Wasser noch schnell einen Schluck zu nehmen; und dazu muss man vor allem die existenzielle Intensität besitzen, den Kunstgesang dorthin zurückzuführen, wo er ursprünglich herkommt, in die Bereiche des emphatischen Aufschreis.

Bostridge theatralisiert nicht nur die Lieder, er macht, kraft seiner unauffälligen, ganz seinem Ausdruckwillen gehorchenden Technik sogar manchen Einzelton durch blitzschnell ablaufende Farb-und Dynamikwechsel zum elektrisierenden Mikrodram. Für diese romantische Molekularphysik schafft Julius Drake das stimmige Ambiente. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.12.2005)