Genesis P-Orridge

Foto: Roland Owsnitzkih
"Nothing ever changes" lautet das Motto der vierköpfigen, unbedingt Lärm erregenden Institution, die in das Stadium künstlerischer Selbstverwertung eingetreten ist.


Berlin – Nur während der Jahre des Punk war es möglich, aus drei Männern und einer Frau einen pochenden Schwellkörper zu formen: Throbbing Gristle lautete der Name der Band, die in den 70er-Jahren in England für Furore sorgte, weil sie nicht auf Anarchie, sondern auf Industrie setzte.

Genesis P-Orridge, Cosey Fanni Tutti, Peter Christopherson und Chris Carter kamen aus dem Londoner Avantgarde- und Extremtheater, sie waren mit Derek Jarman befreundet und bewegten sich eher unter Künstlern als unter Musikern. Ihre schweren Soundcollagen boten dem düsteren Organ von Genesis P-Orridge eine gute Gelegenheit, in leicht verständlichen Sentenzen ("Zyklon B Zombie") das Grauen einer Welt zwischen Fließband und Konzentrationslager heraufzubeschwören.

1981 lösten Throbbing Gristle sich auf, nicht ohne der Welt im Berliner Club SO36 noch eine Hymne über "Discipline" als Primärtugend des Falschen zu hinterlassen. 2004 erfolgte die unerwartete Wiedervereinigung, seither kommen die vier Kollegen von einst bei Gelegenheit wieder zusammen, um nicht mehr unter dem Namen Psychic TV (Genesis P-Orridge) oder Chris & Cosey zu fungieren, sondern den Mythos aus den Gründerjahren ihres Industrial-Labels wiederzubeleben. Unter Mitwirkung dreier kultureller Institutionen konnten Throbbing Gristle schließlich dazu bewogen werden, den Jahreswechsel in Berlin zu verbringen, wo eine in die Jahre gekommene Subkultur die alten Helden sehnlichst erwartete.

Die KunstWerke in Berlin- Mitte räumten für die Ausstellung "Industrial Annual Report" ein Geschoß frei, in dem nun allerlei Platten- und Kassettencover zu sehen sind sowie Videos von legendären Auftritten der Band. Chris Carter wurde zu Silvester dabei gesichtet, wie er sich Notizen von einem dieser Dokumente machte – die musikalische Avantgarde im Stadium ihrer Selbsthistorisierung.

Den Auftakt zu vier Veranstaltungen gab es im Kino Arsenal, wo der Konzertfilm "TG Live at the Astoria in London 2004" gezeigt wurde. Einträchtig saß die zwischendurch arg zerstritten gewesene Viererbande hinterher auf dem Podium und erzählte davon, wie der Kontakt zwischen dem mittlerweile als Frau in den USA lebenden Genesis P-Orridge und den drei in England verbliebenen Ex-Mitgliedern zustande gekommen war – per E-Mail und allmählich, auf jeden Fall aber höflich.

Der Provokateur Genesis P-Orridge entpuppte sich als zurückhaltender Künstler, der die Strategien von einst nicht mehr für tauglich befindet, sondern gegen Apathie und Trägheit mit den Mitteln der Verführung angehen möchte. "Es herrscht einfach ein schrecklicher Mangel an guter Musik da draußen", befand Peter "It's not easy being Sleazy" Christopherson.

Dem wollen Throbbing Gristle im Februar 2006 mit einem neuen Album abhelfen, das den Titel "Part Two" tragen wird und weit gehend fertig gestellt ist. Beim Konzert in der Volksbühne am letzten Abend des alten Jahres war dieses Material dann zum Teil ein wenig zu viel für die Lautsprecher. Unter der Wucht der elektronischen Bässe, auf denen die neuen Throbbing Gristle ihre Soundlava auskühlen lassen, brach das System mehrmals teilweise zusammen.

Genesis P-Orridge, der mit platinblonder Perücke und rosaroten Strümpfen das angenommene Geschlecht betonte, intonierte als Zugabe noch den Song von der "Hamburger Lady" – in Frank Castorfs Inszenierung "Meine Schneekönigin" war diese Nummer erst kürzlich leitmotivisch zum Einsatz gekommen. Danach verschwanden Throbbing Gristle ohne Discipline hinter den Vorhang, und in der Volksbühne übernahm ein elektronischer Erbe das Kommando: Alec Empire demonstrierte mit einem zweistündigen Set, dass das Aggressionspotenzial von Musik nach Punk und Industrial noch deutlich steigerbar war.

Am Neujahrsabend spielten Throbbing Gristle ein zweites, wiederum ausverkauftes Konzert als Live-Soundtrack zu Derek Jarmans Film "In the Shadow of the Sun". Dem "Funeral in Berlin", wie eine ihrer frühen Platten heißt, ließen sie eine Auferstehung folgen, die allerdings musikalisch und konzeptuell nicht mehr die negativmessianische Ausstrahlung haben wird, die TG einmal hatten. Eine ihrer Weisheiten haben sie aber definitiv widerlegt: "Nothing ever changes" – stimmt nicht. Throbbing Gristle gehen mit der Zeit. Gerüchteweise demnächst schon in Wien. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6.1.2006)