derStandard.at: Ist der EU-Verfassungsvertrag tot?

Kohler-Koch: Noch nicht ganz. Ich schätze die Chancen stehen ungefähr 50:50. Doch das Jahr 2006 ist sicher nicht dazu geeignet, eine Lösung in dieser Frage zu finden, weil es heuer einfach zu viele Wahlen gibt. 2007 könnte es zu einer Einigung kommen, will man die Entscheidung in diesem Jahr übers Knie brechen, sehe ich wenig Chance für die Verfassung.

derStandard.at: Welche Szenarien zur "Rettung" des Verfassungsvertrages sind wahrscheinlich?

Kohler-Koch: Es ist politisch sicher nicht machbar, den Verfassungsvertrag in den Ländern, die dagegengestimmt haben, einfach im Parlament zu ratifizieren oder die Bevölkerung noch mal zu befragen. Mit business as usual is der Vertrag also nicht durchzubringen.

Man könnte zwei Strategien einschlagen: In der minimalistischen Variante würde man bestimmte Teile aus dem Vertrag nehmen und die bestehenden Verträge (Vertrag von Nizza, Anm.) um diese ergänzen. Im institutionellen Bereich wären das zum Beispiel die Fragen der Entscheidungsverfahren oder die Aufnahme der Grundrechte. Für diese Strategie wären die Briten zu haben. Sie wollen eine EU, die sich nicht den Anstrich von Staatlichkeit gibt.

Frankreich und Deutschland hätten sicherlich lieber eine Entwicklung hin zur Quasi-Staatlichkeit. Sie stehen dafür, den Verfassungsvertrag nochmals durchzugehen und vielleicht etwas schlanker zu gestalten. In diesem Fall würde man versuchen, in einem längeren Werbeprozess der Bevölkerung diesen überarbeiteten Vertrag schmackhaft zu machen.

derStandard.at: Könnte - rein rechtlich - der Verfassungsvertrag auch ohne die Zustimmung von Frankreich und der Niederlande in Kraft treten, wenn alle weiteren Länder ihn annehmen?

Kohler-Koch: Das ist nicht so eindeutig. Es gibt die eine Meinung, die besagt, dass der Verfassungsvertrag nur in Kraft treten kann, wenn alle zustimmen. Und die andere, nach der es denkbar ist, dass einige Länder auf der Basis des Vertrags von Nizza weiterarbeiten, während für andere der Verfassungsvertrag gilt. Aber das ist meiner Meinung nach keine ideale Voraussetzung für eine Gemeinschaft. Es handelt sich hier eigentlich auch gar nicht um eine rechtliche Frage, sondern um eine grundsätzliche politische.

derStandard.at: Was sind die Hauptkritikpunkte am Vertrag?

Kohler-Koch: In der Öffentlichkeit ist der Vertrag ja nicht inhaltlich, sondern vor allem deswegen umstritten, weil er symbolisch ein großer qualitativer Sprung hin zu einem gemeinsamen, bindenden Europa ist. Das war vielen nicht geheuer. Insbesondere die großen Staaten haben Angst davor, immer Rücksicht auf eine Gruppe von kleinen Staaten nehmen zu müssen.

derStandard.at: Kann man mit dem Vertrag von Nizza überhaupt "weiterwursteln"?

Kohler-Koch: Ich denke man sollte den Nizza-Vertrag nicht klein reden. Es wurde in der ganzen Diskussion immer so getan, als wäre der Verfassungsvertrag so ein qualitativer Sprung. Einen qualitativen Unterschied gibt es nur im politisch symbolischen Bereich. Die Aufnahme in den Verfassungsvertrag bringt dem Bürger materiell nichts. Die EU ist ein Rechtssystem, das sehr gut funktioniert. Die Union leidet eher unter den Neuaufnahmen, die Unterzeichnung eines Papiers kann daran nichts ändern.