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Kenzabur&hibar;o &hibar;Oe, Tagame. Berlin-Tokyo. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. € 20,50/288 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2005.

Foto: REUTERS/Issei Kato
Trotz des Nobelpreises, den er 1994 erhielt, hat Kenzabur&hibar;o &hibar;Oe, in den Sechzigerjahren in seinem Heimatland ein Superstar der Literatur, im Lauf der Zeit viele Leser verloren und nie mehr die einstigen Auflagen erreicht. Das liegt nicht nur an den Markt- und Medienkonjunkturen, sondern auch daran, dass seine Romane komplexer geworden sind, die Themen vertrackter, der Rhythmus langsamer. In seinem neuen Roman - die japanische Originalausgabe erschien vor fünf Jahren - sagt die Frau des Schriftstellers Kogito zu diesem: "Nach deinem langen Mexiko-Aufenthalt fingst du an, fremdsprachige Werke nicht mehr in Übersetzungen zu lesen, und seither, glaube ich, hat sich deine Wortwahl verändert. Es ist, als ob sich seitdem in deiner Sprache eine neue Tiefe spiegelt. Aber es gibt nicht mehr diese umwerfende Komik, die Worte haben keinen Reiz mehr. Doch geht es in der Sprache eines Romans nicht gerade darum? Vielleicht zeugt es ja von Reife, aber dein funkelnder Stil von damals ist verschwunden." Kogito ist kein Alter Ego von &hibar;Oe, er ist &hibar;Oe, und Chikashi ist seine Frau, Akari ist Hikari, sein geistig behinderter Sohn. Noch nie habe ich die Problematik eines alternden Schriftstellers in seinem eigenen Werk mit so schonungsloser Klarheit dargestellt gefunden. Zumal es noch mehrere solche Stellen in Tagame gibt. Das Motiv der Kritik und Selbstkritik, eine heute im Aussterben begriffene, von &hibar;Oe wie selbstverständlich hochgehaltene Tugend, durchzieht den ganzen Roman.

Die von Chikashi angesprochene Problematik ist keine rein literarische, sie betrifft unweigerlich alle Menschen, die über ein bestimmtes Alter hinausgelangen. Das entsprechende Selbstbewusstsein muss allerdings nicht in den Fatalismus führen. Die Werke des "reifen" &hibar;Oe stellen unter anderem die Frage, wie man es anstellt, um in ein und demselben Leben mehrmals neu geboren zu werden. Ich glaube zwar nicht, dass der Verlust des elektrisierenden Stils der frühen Werke, besonders von Eine persönliche Erfahrung, etwas mit &hibar;Oes Lektüre fremdsprachiger Literatur zu tun hat, aber die Rede von der Tiefe des Spätwerks, die sich an der Oberfläche spiegelt (also gar nicht nach oben drängt), scheint mir doch zuzutreffen. Überhaupt hat &hibar;Oe in seiner geduldigen Arbeit einige neue Qualitäten entwickelt, etwa die komplexen, widersprüchlichen, zuweilen "irren", aber immer auch nachdenklichen Figuren, die imstande sind, über viele Seiten hinweg Themen der Literatur, Philosophie und sogar Religion abzuhandeln, sei es im Selbstgespräch oder im Dialog. Diese Eigenschaft hebt die Romane &hibar;Oes wohltuend ab von der Masse von Werken, deren Helden Zeichentrickfiguren gleichen und die außer Stereotypen nichts im Kopf haben. Als Stärke empfinde ich auch die nur schwache Fiktionalisierung der Lebenswelt des Autors, die Transparenz auf seine Biografie und die damit verbundene Glaubwürdigkeit. Tagame ist kein Schlüsselroman, denn &hibar;Oe lässt von vornherein keinen Zweifel, dass Kogito er selbst ist und Gorô sein Freund, der Schauspieler und Filmregisseur Jûzo Itami, der sich 1997 das Leben genommen hat. Nur der Vater Kogitos scheint mythische Konturen anzunehmen, eine dem Bruder Gii verwandte Figur, die treue &hibar;Oe-Leser aus anderen Büchern kennen, vor allem aus der Trilogie Grüner Baum in Flammen (Bruder Gii selbst kommt in Tagame nur ganz am Rande vor).

Eine weitere Stärke scheint mir die ausdauernde Selbstreflexion zu sein, Zeichen eines langen Kampfes gegen die Erstarrung, letztlich gegen den Tod. Diese Selbstreflexion ist es, die &hibar;Oe eine Poetik ermöglicht, in der die Wiederholung selbst spannend werden kann - eine "Wiederholung mit Verschiebung" als Suche nach immer neuen Ansätzen, die immer aufs Neue korrigiert werden, einmal Rückgriff, einmal Vorgriff, "Überlagerungen von Zeitverläufen", Mischung aus Besonnenheit und Unruhe, die die Lektüre schwierig, aber auch nachhaltig macht. Die Bücher, die Tiefe spiegeln, senken sich ins Imaginäre und bleiben im Gedächtnis; man hat sie nicht, wie die Zeichentrickromane, am Tag nach der Lektüre vergessen. Dank der Fähigkeit zur Selbstreflexion gelingt es &hibar;Oe, ein Gefühl für das Sein zum Tode zu vermitteln, und zwar nicht, indem er (wie etwa Wilhelm Genazino) die Wehwehchen des fortgeschrittenen Alters schildert, sondern indem er dieses Entgegengehen nachzeichnet, das manchmal als Widerstand erscheint, manchmal als Resignation. "Kogito spürte, daß er die einsamen, in den Schimmer der Abenddämmerung getauchten Tage still wie ein Toter verbringen könnte . . ." Unter der Hand verwandelt sich das Einverständnis in ein leises Aufbegehren: "Wenn der Tod so mühelos daherkommt, hättest du dich nicht in ihn hineinstürzen müssen, Gorô!"

Löst man den Hauptstrang aus dem Bündel der Erzählungen, geht es in Tagame darum, die nahen und fernen Gründe für Gorôs Selbstmord dingfest zu machen. Bei diesem Unternehmen stößt Kogito / Kenzabur&hibar;o auf etwas, das er nicht direkt benennt, sondern als "diese Sache" offen lässt. Ein zweiter Begriff, der in diesem Zusammenhang auftaucht, ist "dort draußen", ein Jenseits, das nicht unbedingt religiös zu verstehen ist, obwohl er solche Konnotationen erlaubt. "Dort draußen" ist zunächst einmal eine geografische Bestimmung: ein schwer zugängliches Tal auf der gebirgigen Insel Shikoku, von wo &hibar;Oe stammt. Dort sind seltsame Mythen und Rituale noch lebendig, jedenfalls in der Nachkriegszeit, in der Kogito und Gorô (&hibar;Oe und Itami) heranwachsen. Von "dort draußen" kommen die Männer, Yakuza, die an schwarze Priester erinnern und die beiden Künstler bedrohen, den einen sogar in den Selbstmord treiben. "Diese Sache" könnte aber auch mit den halb esoterischen, halb nationalistischen Erlösungsspielen zu tun haben, die von zwielichtigen Figuren auf Shikoku gespielt werden, und in diesem Zusammenhang wiederum mit einer nur angedeuteten, ambivalent bleibenden Homosexualität. Damit ist auch eine Verbindung gelegt zur bereits erwähnten Romantrilogie.

Der in die Jahre gekommene &hibar;Oe unterliegt dem Gedanken der Erlösung - mag sein. Aber gleichzeitig schaudert er vor deren Gefahren und Verblendungen: vor der Katastrophe, die jene seltsamen Wesen an der Peripherie der Gesellschaft heraufbeschwören, die eine bevorstehende Katastrophe, sei sie imaginär oder real, bekämpfen wollen. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.1.2006)