Standard: Wie haben Sie den Beginn der "Causa Groër" 1995 wahr genommen?

Schüller: Groër hat mir damals erzählt, er hätte vor längerer Zeit vom profil einen Fragebogen bekommen. Mit der Aufforderung zur Stellungnahme zu Anschuldigungen. Das waren offensichtlich die Aussagen Josef Hartmanns. Groër hat darauf nicht reagiert - schon längere Zeit nicht.

Standard: Das Schweigen hat er bis zum Tod durchgehalten.

Schüller: Ja. Ich habe gehofft, dass er sich doch anders entscheidet. Er war mein Religionsprofessor, und ich kannte ihn gut. Aber er hat sich auch von mir abgeschottet. Dann ist das profil erschienen - der Rest ist ja landesbekannt.

Standard: Die gesamte Kirche hat ja anfangs geschwiegen - oder es negiert.

Schüller: Ja. Über Missstände in der Kirche zu reden ist das eine, mit persönlichen Anschuldigungen umzugehen das andere. Da muss zwischen denen, die das von Anfang an abgewehrt haben, und ihm unterschieden werden. Er hat offensichtlich keinen Weg gefunden, sich da zu erklären. Ich selbst hatte aus meiner Schülerzeit bei Groër nicht die geringste Wahrnehmung in diese Richtung. Man hat aber zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine Reihe von Kollegen und Mitschülern gibt, bei denen das sehr wohl der Fall war. Ich habe erst nach und nach erkannt, dass er zwei Personenhälften hatte.

Standard: Wie beurteilen Sie das Verhalten der Kirche?

Schüller: Man hätte von höchster Stelle aus, in dem Fall von Rom aus, eine transparente Aufarbeitung machen müssen. Der Schaden für die Kirche ist weniger dadurch entstanden, dass die Vorfälle bekannt geworden sind, sondern mehr durch die Art wie damit umgegangen wurde. Dass der Eindruck entstanden ist, es soll verschwiegen werden.

Standard: Die Aufarbeitung gibt es ja bis heute nicht.

Schüller: Nein. Wir wissen nicht, was an Material dem Vatikan bekannt war oder ist.

Standard: Früher war es gängige Praxis, die Leute schnell zu versetzen. Und heute?

Schüller: Das ist zum Teil noch so, zum Teil nicht. Es löst jedenfalls nichts, denn es ist ja nicht damit getan, wenn jemand bloß eine Funktion nicht mehr ausübt.

Standard: Sie haben als Leiter der Ombudsstelle für Opfer sexuellen Missbrauchs in der Erzdiözese Wien einmal Regeln für den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche gefordert. Was ist daraus geworden?

Schüller: Sie sind formuliert worden. Wo sie jetzt liegen, weiß ich nicht. Im Sinne einer gesamtösterreichischen kirchlichen Vorgangsweise ist bis dato nichts passiert. Andere Länder haben das längst.

Standard: Sie haben 2005 Ihre Arbeit in der Ombudsstelle abgegeben. Warum?

Schüller: Mein Ziel war immer, dass sie einmal ein Nicht-Priester leitet. Da ist die Unabhängigkeit größer. Und ich habe es fast zehn Jahre gemacht. Die Ernüchterung bezüglich der Realität der Kirche ist in den Jahren größer geworden. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.1.2006)