Salman Rushdie
Shalimar der Narr.
Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. € 23,60/544 Seiten. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006.

Foto: Buchcover/Reinbek
Kaschmir, das Paradies. Kaschmir, das Pandämonium. Kaschmir, dieser gepriesene, blutige, zerrissene, zwischen Pakistan und Indien eingezwängte Flecken Erde. Ebendort, in Kaschmir, spielt Salman Rushdies jüngster Roman. Mit Shalimar der Narr knüpft der heute in New York lebende, in Indien geborene und in England erzogene Autor thematisch und erzähltechnisch an Des Mauren letzter Seufzer und vor allem an sein bekanntestes Epos, an Mitternachtskinder, an, Letzteres zum "Booker of all Bookers" gekürt, zum besten Buch, das jemals mit Englands renommiertestem Literaturpreis, dem Booker-Preis, ausgezeichnet worden ist.

Shalimar der Narr ist eine Parabel, in der Liebe auf Terror stößt, West auf Ost, Verführung auf Schicksal, Toleranz auf Rassen- und Religionshass, Tradition auf Libido, Askese auf Brutalität, Lust auf Gewalt, Figuren der mythologischen Welt Indiens auf mediokre Figuren des Tagesgeschehens, Mäßigung auf Raserei, Ignoranz auf Untergang und Fanatismus sich mehr und mehr verquickt mit einem sich potenzierenden politischen Radikalismus. Rund sechzig Jahre überwölbt der Erzählbogen dieses Epos und mehrere Kontinente. Er reicht vom Elsass Mitte der 1930er-Jahre über Indien beziehungsweise Kaschmir zwischen 1949 und 1965 bis zum Kalifornien Ende des 20. Jahrhunderts.

Vier Protagonisten bilden das Zentrum dieser personen- und handlungsreichen Geschichte. Da ist Maximilian Ophuls, gebürtiger Elsässer, Held der Résistance, nach 1945 amerikanischer Staatsbürger, Wirtschaftsprofessor und Botschafter der USA in Indien. Dort verfällt er der ihn verführenden jungen hinduistischen Tänzerin Boomi, genannt Boonyi, Kaul aus dem kaschmirischen Dorf Pachigam am Flusse Muskadoon. Sie verlässt ihr Dorf, obwohl sie mit Noman Sher Noman verheiratet ist, dem jungen muslimischen Hochseilartisten, der unter dem Namen Shalimar der Narr auftritt, und wird Ophuls' Geliebte. Doch die Chance auf die Eroberung einer neuen Welt verkehrt sich ins Gegenteil. Sie wird schwanger. Das Neugeborene wird ihr von Ophuls' Gattin weggenommen, denn nur ohne Tochter kann und will Boonyi wieder ins Heimatdorf zurückkehren und ihre Entehrung sühnen. Doch sie stößt dort auf eisige Ablehnung und wird als "untote" Einsiedlerin gerade so geduldet.

Ihre Tochter, allegorisch von ihr "Kaschmira" genannt, was die Stiefmutter ebenso symbolschwer in "India" ändert, wächst teils in England, teils in Los Angeles auf' wo ihr Vater, der aufgrund des Skandals um Boonyi aus dem diplomatischen Dienst ausscheiden musste, wenig später aber Geheimdienstmitarbeiter der US-Regierung geworden ist, ein Auge auf sie hat. Shalimar hatte einst Rache geschworen, Ophuls, Boonyi und deren Tochter zu töten. Im Zuge der breit erzählten politischen Radikalisierung in Kaschmir geht Shalimar in den militärischen Untergrund, wird Terrorist und ermordet vor den Augen der Tochter Max Ophuls. Wofür er verurteilt wird, nach mehreren Jahren ausbricht und sich auf die Suche nach India/Kaschmira macht.

In seinen besten Passagen, der langen Einführung der beiden kaschmirischen Nachbardörfer und deren pittoresken Bewohnern, der zarten Liebesgeschichte zwischen Boonyi und Shalimar, der Charakterisierung Indias/Kaschmiras oder der Schilderung ihrer Reise nach Kaschmir auf der Suche nach ihrer Mutter, schreibt Rushdie so atemberaubend gut, dass man sich hemmungslos dem Fluss seines Stils ergibt. Und dann stößt man wiederum auf erschreckend schlechte, weil durchschnittliche, ja auf pathetische Absätze, vor allem auf den letzten 30, 40 Seiten Seiten.

Man merkt, einmal mehr, einmal weniger deutlich, wie Salman Rushdie all seine Talente in diese Geschichte legt, wie er sie in die Waagschale wirft, um sich zu genügen und auch der internationalen Kritik, die ihn, entgeistert ob seines missratenen Romans Wut, zauste. Man spürt bei der Lektüre förmlich, wie er all seine Kräfte anspannt und seine leitmotivische Verweis- wie seine von atmosphärischen Details gesättigte Beschreibungskunst einsetzt, manchmal auch unter Anstrengungen, um zu bezirzen, zu beschwören, um zu betören, zu evozieren, anzuklagen.

Doch dafür ist Salman Rushdie zu klug und zu gebildet. Immerhin füllen seine Essays aus den 1990er-Jahren in Überschreiten Sie diese Grenze! 576 Druckseiten und seine im Jahrzehnt zuvor entstandenen literaturkritischen Aufsätze, versammelt in Heimatländer der Phantasie, 512 Seiten. Rushdie kann nicht mehr der Macht einer magisch-naiven Deskription vertrauen, nicht mehr mitreißender Suggestion, nicht mehr Sätzen, die ihn und seine Leser hinforttragen. Daran leidet am deutlichsten das letzte Achtel. Hier begegnen einem viele, allzu viele Windungen, die die Geschichte nimmt. Aber kaum etwas überzeugt hier, nicht die Beschreibung des Prozesses, nicht die von Shalimars Haft. Sein Entkommen durch die Luft im Zuge einer Massenflucht ist noch das einzige magische Ferment.

Das Finale ist gänzlich unbefriedigend. Hier begibt sich Rushdie gar in die Niederungen eines aus Kino und Fernsehen bekannten Suspense-Realismus. Die letzten Seiten muten arg fatal an. Nicht, weil sie so fantasiefrei sind, sondern weil sie fast ins Triviale abrutschen. Wusste Salman Rushdie dramaturgisch nicht mehr weiter? Er scheint sich seiner eigenen, reichen Imagination am Ende selbst nicht mehr sicher zu sein. Und lässt als Showdown nachts Shalimar in Kaschmiras Haus eindringen und diese sich mit Pfeil und Bogen bewaffnen. Die Parabel stößt an ihre Enden. (DER STANDARD, Printausgabe vom 21./22.1.2006)