Über 90 Jahre ist es her, seit die erste Gesellschaft für Sexualwissenschaft gegründet wurde, schon drei Jahrzehnte liegt es zurück, dass Woody Allen mit "Was sie immer schon über Sex wissen wollten, aber niemals zu fragen wagten" breite Aufklärung versprach. Dennoch: Sexuelle Probleme gelten immer noch als Tabuthemen.

Bei jenen, die darunter leiden und jenen, die sie behandeln sollten. Einen Grund dafür nennt der Innsbrucker Sexualwissenschafter Josef Christian Aigner: "Die Sexualität führt in fast allen Universitätsstudien ein Schattendasein." In einem "Appell an die Uni-Reformer" kritisierten Aigner und Johannes Wahala (Österreichische Gesellschaft für Sexualforschung) "die enormen Defizite an Wissen über menschliche Sexualität in den meisten humanwissenschaftlichen Berufsfeldern" und forderten Anpassung der Studienpläne und psychotherapeutischen Ausbildungscurricula. Der Appell wurde im äußersten Westen Österreichs, im Zentrum für Wissenschaft und Weiterbildung Schloss Hofen, gehört.

Dort wird mit dem neuen Lehrgang "Diagnostik, Beratung und Psychotherapie bei sexuellen Störungen" ein viersemestriges berufsbegleitendes Curriculum für medizinisch und/oder therapeutisch Ausgebildete angeboten. Wissenschaftliche Leiter sind Bernhard Strauß, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie der Universität Jena und Josef Christian Aigner, die Vortragenden kommen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich. Abgeschlossen wird der Lehrgang mit einem Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Das Wissensdefizit über Sexualität und deren Problemfelder ist kein österreichisches Spezifikum.

Eine deutsche Expertengruppe erkannte: "Die Versorgung von Patienten und Patientinnen mit sexuellen Problemen und Störungen ist unzureichend." Dies gelte für die Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen, Perversionen einschließlich Sexualdelinquenz, von Transsexualität und Geschlechtsidentitätsstörungen. Die fehlende Kompetenz habe fatale Folgen. Aigner: "Individuelles und familiäres Leiden wird verstärkt und verlängert, psychosomatische Erkrankungen treten auf."

Ärztliche Praxis

Sexuelle Störungen sind keine Randerscheinung, "sie gehören zum täglich festzustellenden Krankheitsbild in der ärztlichen Praxis", sagt Burkhard Walla, Vizepräsident der Vorarlberger Ärztekammer und verweist auf die internationale Studie eines Pharmakonzerns: Von 26.000 Befragten gaben 44 Prozent der Frauen und 39 Prozent der Männer an, sexuelle Probleme zu haben. Walla: "Man kann von einer Volkskrankheit sprechen."

Während Orgasmusstörungen im Vergleich zu ersten Zahlen aus den 1970er Jahren abgenommen haben, häuft sich das Lustlosigkeitssyndrom - bei Frauen wie Männern und sogar Jugendlichen.

Sexuellen Störungen mit Pillen zu begegnen und damit allein die Symptomatik zu bekämpfen, greife zu kurz. Es gehe auch um den kritischen Umgang mit gesellschaftlichen Anforderungen. Etwa im beruflichen Alltag. Aigner: "Wir sind mit einer Arbeitswelt konfrontiert, die ausgepowerte, klein gemachte Menschen produziert, auf die passende Größe zusammengestaucht." In der Behandlung sexueller Störungen gehe es - und das will der neue Lehrgang vermitteln - um "komplexere Zusammenhänge". (Der Standard, Printausgabe 18./19.2.2006)