Im Dezember 1772 wandte sich der Maler Sir Joshua Reynolds, Präsident der Royal Academy in London, mit einer feierlichen Ansprache an die versammelten Studenten, die der Verleihung der Akademiepreise entgegenfieberten. Die Botschaft des hochangesehenen Porträtisten an den Nachwuchs fiel nicht sehr aufmunternd aus. Mit der Malerei, murrte Reynolds verdrießlich, gehe es bekanntlich schon seit Langem nur noch bergab.

So wie er die Lage beurteile, sei es eher unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder das Niveau eines Raffael oder Michelangelo erreichen werde. Dennoch könne es die Akademie auch künftig keinem jungen Künstler ersparen, diese unerreichbaren Vorbilder hingebungsvoll zu studieren und zu kopieren, um ihnen auf diese Weise wenigstens so nahe wie möglich zu kommen. Man kann sich die betretenen Mienen der Anwesenden vorstellen.

Nachahmung

Heutige Kunststudenten würden sich derartige Thesen vermutlich überhaupt nicht erst anhören. Schon seit mehr als hundert Jahren gilt die Vorstellung, dass man als Künstler irgendetwas durch die mühselige Nachahmung tradierter Formen oder das Befolgen akademischer Regeln zu gewinnen habe, geradezu als abwegig. Zwar existieren Kunstakademien nominell noch immer, doch deren Präsidenten legen in der Regel großen Wert auf die Feststellung, dass Studenten dort nicht mit der Aufarbeitung der Vergangenheit gequält, sondern in völliger Freiheit zu "assoziativem, surrealem, alogisch vernetztem Denken" angeleitet würden. Das ist nur konsequent, hat die Moderne doch einst mit aller Tradition gebrochen, und zwar ein für alle Mal. So jedenfalls steht es heute in den Schulbüchern: Romantiker, Realisten, Impressionisten, Kubisten, Dadaisten, Surrealisten etc., deren Werke heute den Stolz der Museen der westlichen Welt ausmachen, hätten in keiner Akademie ihrer Zeit reüssiert, während die Produktion, die dort geschätzt wurde, heute bestenfalls in den Depots verschimmelt. Argumentation

Die künstlerischen Leitwerte Innovation, Individualität, Originalität haben sich also offensichtlich bewährt. Wer es als Künstler zu etwas bringen will, muss folglich in erster Linie "authentisch sein", wie es im Branchenjargon so schön heißt, und "eine eigene Position entwickeln".

Die Argumentation ist bestechend. Sie wirft allerdings die Frage auf, woran man eine "eigene Position" erkennt. Daran, dass sie innovativ, originell und unverwechselbar sei, ist als Antwort leider unbefriedigend. Genau das hätten die etablierten Größen des akademischen Zeitalters für ihre Arbeit nämlich ebenso in Anspruch nehmen können, und zwar zu Recht. Auch der traditionsgläubige Reynolds war in seinem Fach innovativ und dabei in höchstem Maße originell und unverwechselbar. Auf der anderen Seite warfen sich ausgerechnet so programmatische Modernisten wie die italienischen Futuristen, die in ihren Manifesten mit vollen Backen zur totalen Revolte gegen alle Tradition geblasen hatten, mit zähem Fleiß auf das erztraditionelle Feld der Tafelbildmalerei und stürmten damit direkt in die erztraditionellen Museen, deren augenblicklichen Abriss sie noch kurz zuvor energisch gefordert hatten. Originalität ist also offenbar kein geeigneter Indikator für den Wert künstlerischer Produktion - nichts ist leichter, als eine "eigene Position" zu entwickeln. Originalität Andererseits aber ist, wie jeder Künstler weiß, zugleich auch nichts schwerer. Auf jeder beliebigen zeitgenössischen Biennale oder Kunstmesse wird dem Besucher vorgeführt, wie schnell der Anspruch auf unbedingte Originalität implodiert. Das liegt nicht etwa an mangelnder individueller Begabung, sondern zunächst einmal an der schieren Menge. Selbst dem professionell geschulten Auge verschwimmt der größte Teil der Exponate schon nach kurzer Zeit zu einem bunten Einerlei. Und das ist keineswegs nur eine Ermüdungserscheinung. Es hängt vielmehr damit zusammen, dass die zahllosen "eigenen Positionen", mit ihren subtilen konzeptuellen Nuancen und formalen Verwerfungen, so singulär und unverwechselbar gar nicht sind. Auf der Jagd nach unbedingter Originalität ist die Kunst der Moderne also offenbar zu dem geworden, was sie niemals sein wollte - zu einem Spiel mit Überbietungen und Wiederholungen, sprich: zu einer Tradition. Das klingt wie eine schlechte Nachricht, ist aber vermutlich gar keine. Unverwechselbarkeit Zur Zeit Reynolds', als die Salonausstellung der Pariser Akademie europaweit das Maß aller Dinge war, hingen die Gemälde dort in jedem Saal zu hunderten eng gedrängt bis unter die Decke. Porträts, Landschaften, Schäferszenen, Schlachtengemälde - die unterschiedlichsten Genres bunt durcheinander gemischt, große neben kleinen Formaten, Dezentes neben Schreiendem, Meisterhaftes neben Missratenem, berühmte Namen neben Anfängern. Schon damals überboten sich die Künstler in der Herstellung von Unverwechselbarkeit. Schon damals lautete die Klage der Besucher, es gebe nichts Originelles mehr zu sehen. Und schon damals ging der Betrieb weiter. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. 2. 2006)