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Der Autor Robert Menasse vermisst die Welthaltigkeit der zeitgenössischen Literatur: "Es gibt zwei literarische Hauptberufsarten: den Erben und den Privatier."

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Im Gespräch mit Ronald Pohl erläutert Menasse, warum der Blick auf die großen Zusammenhänge notwendig ist.


STANDARD: Ihre eben bei Suhrkamp erschienenen Frankfurter Poetikvorlesungen "Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung" unterscheiden sich von ähnlichen Unternehmungen: Sie plaudern nicht über Werkstattgeheimnisse, sondern fassen noch einmal das Große, Ganze ins Auge. Sie üben Kritik am Ausufern des Neokapitalismus, der nicht nur von Marktapologeten als naturwüchsig betrachtet wird und unterhinterfragbar scheint. Sie zitieren andere Traditionen, lesen das "Kommunistische Manifest" als Dichtkunstwerk. Wie kommt man dazu, in Vorlesungen die "Totalität" von Welt anzusprechen?

Robert Menasse: Weil es heute in einem noch größeren Ausmaß, als wir es historisch kannten, als das Systemdenken in Hochblüte stand, wirklich ums Ganze geht. Die zentralen Begriffe unserer Zeitgenossenschaft, wie eben Globalisierung, das Zusammenwachsen unseres Kontinents, die Bereitstellung von Informationen, die ökonomische wie ideelle Vernetzung: Sie zeigen, dass heute kein Phänomen mehr ausschließlich als "dieses bestimmte Phänomen" analysiert werden kann.

STANDARD: Innerhalb seiner natürlichen "Genregrenzen"?

Menasse: Der Anspruch "bürgerlicher Gesellschaften", wie man das früher soziologisch genannt hat, ist es immer gewesen, aufs Ganze zu gehen. Das liegt in der inneren Logik unserer Form des Zusammenlebens und Wirtschaftens. Darum ist auch "Wachstum" ein so entscheidender Begriff. Das bedeutet Räumlichkeit.

STANDARD: Sie meinen: Ehemals autonome Sparten der Lebenswelt werden okkupiert?

Menasse: Das kann man als Anspruch ja auch wieder lächerlich machen: zu sagen, "Ich will das Ganze verstehen". Man kann auch wirklich sehr glücklich und zufrieden leben, wenn man diesen Anspruch nicht stellt. Objektiv ist er nicht nur vernünftig, sondern notwendig - weil man ohne ihn bloß ein Getriebener im Getriebe ist.

Er bietet die einzig vernünftige Antwort auf das, was passiert. Wenn objektiv alles immer aufs Ganze geht, so kann jede Auseinandersetzung diesen Anspruch nur immer wieder aufnehmen. Es wäre inadäquat im Hinblick darauf, was uns versprochen wurde: dass wir unsere Individualität entfalten können, dass wir Chancen haben, unser Lebensglück zu machen - dass das auf der Basis von Bildung und Sicherheit geschehen könne und müsse.

Die zentrale Ideologie der Bürgergesellschaft meint nicht, jeder möge versuchen, ein Fachidiot zu werden, und wir werden allesamt glücklich sein, sondern: Jeder möge seine Individualität möglichst umfassend entfalten. Die an uns gestellte Anforderung ist also das Ganze.

STANDARD: Schon Marx meinte, dass wir alle Künstler würden, wenn wir nur erst unserer unmittelbar anfallenden Tätigkeiten enthoben sind.

Menasse: Aber Marx' Perspektive sagt, du kannst Künstler sein, weil das einen Bestandteil des entfalteten Individuums ausmacht. Das heißt nicht, dass der Mensch sonst nichts ist.

Das Individuum kann sonst ja Kritiker sein, Fischer oder Jäger. Nur in der heutigen Literatur spiegelt sich nichts davon wider.

STANDARD: Sie sprechen über das Ganze der Politik, zugleich hallt Ihr Vorlesungstext von einer Art Hohngelächter wider. Das habe ich doch ästhetisch zu messen, zu goutieren?

Menasse: Genau darin liegt der Anspruch. Er wird in der zeitgenössischen Literatur von den Autoren nur nicht gestellt. Nun könnte man sagen: Ist halt eine schwache Autorengeneration! Aber auch die Kritiker stellen den Anspruch nicht mehr. Ich gebe drei Beispiele. Auch dort, wo die zeitgenössische Literatur den Anschein erweckt, "realistisch" zu sein, schrammt sie stets an der Realität vorbei. Im wirklichen Leben hat doch jeder Mensch einen Beruf. Es gibt, ich weiß nicht, 7872 offiziell anerkannte Berufsbezeichnungen. Wenn man sich die deutschsprachige Literatur der letzten 20 Jahre anschaut und nur addiert, was für Berufe vorkommen, wird man fünf bis sieben hochrechnen können, wobei rund 80 Prozent von zwei bestritten werden: Erbe oder Privatier.

Zweites Beispiel: Es lebt doch jeder Mensch in einer Familie. Es kommen in der zeitgenössischen Literatur aber keine Familiensituationen vor. Wenn Familie, dann als Ahnen- oder Vorgeschichte. Es werden ganze Familienentwicklungen im Modus des Erinnerns beschrieben - der zeitgenössische Held ist ohne Familie und sitzt einsam in einer Dachkammer. In der Realität verhält es sich genau umgekehrt: Man lebt miteinander und kann sich eher schlecht an die Ahnen erinnern.

Ein drittes Beispiel: Es gibt über den kleinen, simplen Anfechtungen des Lebens so etwas wie globale Bedrohungen. Auch wenn sie im Alltagsleben nicht unbedingt jederzeit eine Rolle spielen, sind sie trotzdem immer vorhanden. Jeder Mensch liest jeden Tag in der Früh in der Zeitung, welche Gefahr sich daraus ergäbe, wenn der Iran eine Atombombe besitzt.

STANDARD: Sie meinen ein "Comeback" der nuklearen Bedrohung?

Menasse: Zunächst im Bewusstsein - objektiv ist sie ja nie verschwunden. Nun wird sie in der Realität doppelt ausgelagert: Einerseits geografisch, indem es als Problem in einem anderen Erdteil virulent wird. Als gäbe es in Europa nicht völlig schleißige Atomkraftwerke. Und: Es ist ein Problem der Frühstückslektüre, und nicht des sozialen, beruflichen Lebens. Es ist immerhin eine Medienrealität - aber in der Literatur? Nicht vorhanden.

Es gibt, wie ich den großen Leitartikeln des Feuilletons entnehme, eine "Renaissance des realistischen Erzählens". Die Menschen wollen wieder realistisch erzählte Literatur haben, das Sprachspiel, das Experiment, die so lange eine überragende Rolle gespielt haben, sind abgehakt. Aber zum ersten Mal in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur haben wir eine realistische Literatur, die die Realität nicht abbildet. Sie simuliert das zwar in Form und der Sprache, aber was realistische Literatur begrifflich erfüllt - dass sie nämlich abbilden will -, findet nicht statt. Mit anderen Worten: Die Renaissance des realistischen Erzählens ist derzeit ein bloßes Sprachspiel - wie die Sprachspiele davor. (DER STANDARD, Printausgabe, 11./12.03.2006)