Wenn es ein Buch gibt, mit dessen Lektüre sich das vergangene Jubiläumsjahr angemessen und doch unterhaltsam begehen hätte lassen, dann ist es Albert Drachs Unsentimentale Reise. Der wortgewaltige Rechtsanwalt hat diesen außergewöhnlichen Text im Untertitel nicht Roman genannt: "Ein Bericht" hat den Atem der Authentizität, die Erlebnisse des Emigranten Peter Kucku spiegeln jedoch nicht einfach wider, wie es dem Autor im französischen Exil erging. Drach hat fantasiert und manches stilisiert, so lange, bis aus der schauerlichen Geschichte vom Überleben ein veritables Schelmenstück geworden ist. Unsentimentale Reise, Band drei der neuen Werkausgabe im Zsolnay-Verlag, folgt Untersuchung an Mädeln und dem autobiografischen Text Z.Z. das ist die Zwischenzeit, in dem Drach erzählt, was ein sexfixierter Mödlinger Anwalt jüdischer Abstammung nach dem Tod seines Vaters treibt, bis seine Heimat endlich ins Reich "heimkehrt" und seines Bleibens nicht länger ist.

Die neue Edition ist gottlob kein Staatsbegräbnis zwischen Buchdeckeln, sondern angewandte Philologie zum Nutzen und Frommen des Lesers - jeder Band befindet sich in der Obhut von jeweils anderen Herausgebern, die einen kompakten Kommentar beisteuern, Hinweise zur Entstehungsgeschichte sowie ein profundes Nachwort, das hier von der Drach-Biographin Eva Schobel stammt.

Das prägende Element des Erzählten ist das Paradox, zunächst das der historischen Situation: Die Internierung aller "feindlichen Ausländer" bei Ausbruch des Krieges - von der die Österreicher als Angehörige eines gewaltsam ausgelöschten Staates zunächst verschont bleiben - spannt Juden und Nazis zusammen. Paradox ist auch, dass man Kucku trotz korrekter französischer Papiere verhaftet, die er allerdings einem falsch interpretierten Dokument verdankt: Er hat seinen Wiener Heimatschein vorgelegt und die Abkürzung "I.K.G." für "Israelitische Kultusgemeinde" dem vernehmenden Beamten mit "Im katholischen Glauben" übersetzt.

Das Paradoxon vom guten Bösen verkörpert auch der dichtende Nazifreund und Antisemit Lebleu, der den vorgeblichen Arier Kucku schließlich in einem Gebirgsdorf bei Nizza aufnimmt und selbstlos unterstützt. Der Weg des Protagonisten durch die Lager, nur um Haaresbreite am Abtransport in die Vernichtung vorbei, steht für die Minderheit der Davongekommenen. Zum Wesen des Überlebens von Verfolgung gehört, dass der Einzelne vom Unglück anderer und von eigener List profitiert. In der Unsentimentalen Reise agiert ein dreister Simplicius als eine Art Stehaufmännchen, das trotz Bedrohung von Leib und Leben auch sein erotisches Interesse aufrechterhält. Das von Bernhard Fetz auf diesen Roman gemünzte Bonmot "Kaum steht der Held, so liegt er auch schon wieder" trifft insofern nicht ganz zu, als die einschlägigen Passagen den Helden gerade als einen verhinderten Don Juan zeigen. Kucku scheitert im befreiten Nizza bei einem letzten Versuch, das geliebte Mädchen zu erobern.

In Abwandlung von Lawrence Sternes Sentimental Journey hat Drach seinem Bericht jede Sentimentalität ausgetrieben. Über den Selbstmord des Mithäftlings Walter Hasenclever im Lager Les Milles heißt es: "Der Dichter war zwar noch nicht tot, aber die französischen Lagerärzte übten sich noch an ihm, bis er es war." Drachs eisgekühlte Buchführung des Schreckens stieß beim Erscheinen 1966 auf Abscheu.

Der Autor ermittelt aber vor allem gegen das erzählende Ich, wenn auch nicht im strengen Protokollstil seiner anderen Bücher - was die Unsentimentale Reise zum idealen Einstiegstext für Drach-Neulinge macht. Der Zynismus des Helden ist nur von dem Schuldgefühl her verständlich, das Kucku am Abend vor seiner wundersamen Entlassung aus dem Sammellager Rives Altes resümiert: "Ich weiß sehr wohl, daß ich mein Leben stehle." Konkreter noch: Wie sein Autor gibt Kucku sich die Schuld am Tod seiner Mutter, die er gegen ihren Willen in Wien zurückließ.

Drachs Bericht ist nicht zuletzt der verzweifelte Versuch einer nachträglichen Distanzierung von seinen jüdischen Wurzeln, die die real praktizierte Distanzierung mit dem Gütesiegel literarischer Wahrhaftigkeit versieht. Anders als etwa Soma Morgenstern in seinem Roman Flucht in Frankreich lässt Drach sich von ostjüdischer Gläubigkeit nur widerstrebend berühren. Die österreichischen Juden nimmt er von seiner Definition des Nationalcharakters nicht aus: "Sie kennen nicht den Dr. Honigmann? Keiner kennt ihn, jeder glaubt, ihn kennen zu sollen. Er erzählt, was er gewesen ist, richtiger, wen er gekannt hat. Er ist also aus Österreich."

Drach zeigt seinen Kucku als Provokateur, der immer wieder aus der ihm zugedachten Opferrolle fällt und gerade deshalb als Nichtjude glaubhaft wird. Mit dieser - biografisch nicht durchwegs beglaubigten - Anmaßung reißt der Autor zugleich die Definitionsmacht wieder an sich und rächt sich an seinen Verfolgern.

Peter Kuckus ehrlich-frivole Attitüde nimmt die Haltung des Lesers vorweg, der eine Geschichte vom Überleben als Erfolgsstory der besonderen Art konsumiert. Die Inszenierung findet schon in der Geschichte selbst statt: "Ich beginne bereits, an meinem Leben Geschmack zu finden, es erscheint mir wenigstens interessant: als ob ich mich so spalten könnte, daß ein Teil von mir die Gefahren übernimmt, der andere aber als unbeteiligter Zuschauer von außen dem gebotenen Schauspiel beiwohnen darf."

Der soeben erschienene Band vier, Das Beileid. Nach Teilen eines Tagebuchs, setzt, nunmehr unverhüllt autobiografisch, die Geschichte fort. Drach kommentiert und ergänzt seine Aufzeichnungen aus den Nachkriegsjahren, in denen er zwischen Nizza und Mödling pendelte, ehe er endgültig heimkehrte. Das Ich verbucht den Kauf einer Zahnbürste, häufige Selbstbefriedigung, die Tatsache, dass sein Los nicht gezogen worden ist, die geborgten und die verspielten Beträge. Dokumentiert wird Lebensmanagement ohne inneres Beteiligtsein.

Die Rückkehr in ein Land, "in dem jeder alles gewesen", scheint ein Abenteuer wider besseres Wissen. Das Ich hat Verfolgung und Selbstmordversuch überlebt und betrachtet sich als Gespenst. Das freilich essen muss: Der doppelte Rationen verheißenden "Schwerarbeiterkarte" halber bewirbt Drach sich um Aufnahme in den Schriftstellerverband, die ihm verweigert wird. Er bekommt die Karte vis-à-vis in der Rechtsanwaltskammer, womit er unversehens wieder Anwalt ist. Illusionen kann sich ein Emigrant nicht leisten: Drachs bester Freund, ein "Arier", freut sich über die Dezimierung der jüdischen Geschäfte in Mariahilf. Um sein arisiertes, dann sowjetisiertes Haus muss Drach jahrelang prozessieren. Als doppelter Schwerarbeiter hat er hier ein voreiliges Kondolenzschreiben an sich selbst verfasst, das zugleich dem Österreich der "Stunde Null" gilt. Das Buch enthält, wie Bernhard Fetz in seinem Nachwort meint, "mehr lebensgeschichtliches Material im Rohzustand" als Drachs Lebensromane - das macht es weniger kunstvoll, aber nicht weniger spannend. (DER STANDARD, Printausgabe vom 18./19.3.2006)