Alex Jürgen: "Wanderer zwischen den Geschlechtern sind einsam."
Tintenfischalarm
Alex Jürgen (28) kam mit nicht-eindeutigem Geschlecht zur Welt – er ist intersexuell. Zuerst galt er als Bub, hatte er doch Hoden und einen Penis, wenn auch stark unterentwickelt ( dieStandard.at berichtete ). Als das Kind zwei Jahre alt war, rieten die ÄrztInnen den Eltern, ihn doch in ein Mädchen umoperieren zu lassen. Elisabeth Scharang drehte die Doku "Tintenfischalarm" über Alex Jürgens Identitätsfindung, für die Standard.at sprach Donja Noormofidi mit ihm über das Geschlechter-Tam-Tam.

dieStandard.at: Es gibt im Film eine Szene, in der Sie vor dem Spiegel stehen und fragen: "Was bin ich jetzt, Mann oder Frau?" Als was fühlen Sie sich?

Alex Jürgen: Das sind Definitionen, die andere Leute machen. Ich habe lange gebraucht, um das zu überwinden. Für mich hat sich das ganze Tamtam Mann, Frau, schwul, hetero oder lesbisch aufgelöst. Das gibt es nicht mehr. Ich bin ein Mensch, der auf Menschen steht, das ist alles.

dieStandard.at: In der Doku hat man das Gefühl, Sie wären lieber ein Mann.

Alex Jürgen: Es ist nicht mehr so wichtig. Manchmal finde ich es ganz super, dass ich so androgyn ausschaue und die Leute mich fragen, was ich bin. Manchmal denke ich, ich hätte lieber einen Bart, vielleicht hätte ich dann weniger Probleme. Aber das ist die feige Seite an mir. Ich muss meine eigene Definition finden, damit ich glücklich sein kann. Wenn ich immer dem Geschlechterwahn hinterlaufe, Mann oder Frau sein zu müssen, werde ich nicht glücklich.

dieStandard.at: Wurden Sie in Ihrer Kindheit sehr in die Mädchenrolle gepresst?

Alex Jürgen: Das war meine Rolle, die habe ich zu spielen gehabt. Ich wollte das ja selbst – den Schein des Normalseins aufrecht erhalten, koste es, was es wolle. Dafür habe ich viel gemacht: drei Jahre einen Freund gehabt, mich geschminkt, mir am Samstag die Haare von der Mama eindrehen lassen. Das ist so weit gegangen, dass ich mir die Vagina machen ließ. Die Ärzte haben mir gesagt: Dann bin ich normal, dann kann ich ganz normal Sex haben. Für die Ärzte ist heterosexueller Verkehr das Ultimative, das muss möglich sein, sonst kann man kein normales Leben führen. Es war meine Pflicht als Frau, mich ficken zu lassen. Wenn du als Frau nicht fickbar bist, bist du uninteressant für eine Beziehung.

dieStandard.at: Wie haben Sie das Mädchenklischee in der Erziehung gespürt?

Alex Jürgen: Ich habe das ziemlich stark reingedrückt bekommen. Ich habe nicht pfeifen und nicht breitbeinig dasitzen dürfen, mir ist gesagt worden, ich darf nicht zelten gehen, weil das nur Buben dürfen. Das sind lauter Geschichten, wo ich einen Nachteil gesehen hab. Eingetrichterte Geschichten, die man sich abgewöhnen muss, die kann man nicht einfach ablegen.

dieStandard.at: Im Film sagen Sie: "Ich hoffe, dass es mich nicht umbringt, dass ich keinen Schwanz habe." Wie gehen Sie jetzt damit um?

Alex Jürgen: Ich hätte schon gern das, was ich gehabt habe. Man kann ja nicht sagen, ob meine Hoden Spermien produziert hätten, sodass ich sogar Vater hätte werden können. Aber ich kann mittlerweile irgendwie gut umgehen damit, dass ich halt nichts zwischen den Beinen habe.

dieStandard.at: Im Film sagen Sie, dass ein Wanderer zwischen den Geschlechtern eben immer alleine ist. Wie ist das jetzt mit der Einsamkeit?

Alex Jürgen: Wenn man sich aus den Schubladen Mann, Frau, schwul, lesbisch, hetero herausbegibt, ist man relativ einsam, weil alle anderen in diesen Schubladen denken. Eine Lesbe hätte ein Problem, wenn sie mit mir zusammengeht, weil in meinem Pass steht, dass ich ein Mann bin. Ein Homosexueller hätte vielleicht ein Problem, weil ich nichts zwischen den Beinen hab. Und ein Hetero – das ist wieder ein ganz andere Geschichte. Wenn alle anderen sich in den Schubladen so wohl fühlen, man selbst aber in keine eingeordnet werden kann, damit tun sich viele Leute schwer.

dieStandard.at: Wie ist das in einer Beziehung?

Alex Jürgen: Ich will keine Beziehung, in der nicht Klartext gesprochen wird – ich bin so, wie ich bin. Wenn ich sage, ich bin intersexuell, dann wollen alle wissen, was ich zwischen den Beinen hab. Da ist das Unbekannte, vor dem man schnell Angst hat. Und dann sagen viele, wir können ja gute Freunde bleiben.

dieStandard.at: Wie müsste jemand sein, der für Sie als Partner infrage kommt?

Alex Jürgen: Bei mir braucht das viel Vertrauen. Im unteren Bereich sind ja eigentlich immer nur Leute hingekommen, die nichts Gutes im Sinn gehabt haben.

dieStandard.at: Im Film zeigen sie sehr intime Seiten von sich. Hatten Sie manchmal Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, ihn zu drehen?

Alex Jürgen: Die gab es schon, aber ich weiß, was ich mit dem Film will. Nur über das Thema zu reden, ist mir zu wenig. Ich denke immer an betroffene Eltern und hoffe, dass sie ihren Kindern das nicht antun. Man muss ihnen zeigen, wovon man redet, man muss ihnen Narben zeigen. Wie die Operationen wirklich ausschauen.

dieStandard.at: Was können Eltern von Intersex-Kindern tun?

Alex Jürgen: Für mich ist es wichtig, dass man auch als betroffener Elternteil eine psychologische Betreuung bekommt und nicht immer eine Operation die einzige Variante ist. Die Ärzte tun so, als ob eine Operation das Problem lösen würde. So ist es nicht. Ein Intersex-Kind kann in unserer Gesellschaft nie problemfrei aufwachsen, mit oder ohne Operation.

dieStandard.at: Aber ohne Operation wäre es leichter?

Alex Jürgen: Nein, leichter nicht. Aber ich kenne ausschließlich Intersex-Betroffene, die sich wünschen, wieder so zu sein, wie sie auf die Welt gekommen sind. Wichtig ist, dass man die Kinder aufklärt. Das ist das Schlimmste, gar nichts zu sagen. Die Kinder kommen ja trotzdem ins Krankenhaus und werden untersucht. Ich habe mir eingebildet: "Ich muss sterben. Wenn meine Eltern nicht mit mir darüber reden können, muss das wirklich schlimm sein." Man sollte den Kindern nie sagen: "Bei Dir ist was falsch." Man muss die Besonderheit herauskehren.

dieStandard.at: Bei der Doku bekommt man das Gefühl, dass Sie sehr verzweifelt sind. Wie geht es Ihnen heute?

Alex Jürgen: Es geht auf alle Fälle besser. Damals, als ich das gesagt habe, war ich noch nicht auf dem Entwicklungsstand, auf dem ich jetzt bin. Vor dem Film wollte ich auf meine Problematik gar nicht hinschauen. Wenn man so einen Film macht, ist man gezwungen, dass man sich damit auseinandersetzt. Das hat mich weitergebracht.

dieStandard.at: Hatten Sie Angst vor Reaktionen aus dem Umfeld?

Alex Jürgen: Das war mir wurscht, weil ich muss ich sein dürfen. In meiner Arbeit wissen alle, was mit mir los ist. Wenn ich das verschweigen müsste, würde ich wieder anfangen, Rollen zu spielen. Das will ich nicht mehr, Rollen hab ich lange genug gespielt.

dieStandard.at: Denken Sie sich nicht manchmal: Eigentlich will ich Euch das gar nicht sagen, ihr kapiert es sowieso nicht?

Alex Jürgen: Natürlich geht es mir nicht gut, wenn ich mich selbst im Kino anschaue. Aber ich habe drei Ziele: Erstens möchte ich den Geist der Menschen aufmachen, dass Mann und Frau nicht alles ist, was es gibt. Viele wissen ja gar nicht, dass es das gibt. Zweitens möchte ich andere Betroffene finden und motivieren, dass sie sich nicht jahrelang verstecken. Und ich möchte in Österreich eine Selbsthilfegruppe auf die Beine stellen. Außerdem soll es eine psychologische Betreuung für Eltern und Betroffene geben, und das kostenlos. Es gibt schon psychotherapeutische Betreuung auf Krankenkasse, aber da sind keine Experten für Intersex dabei. Ich als Betroffener hab wohl das Recht auf einen Experten.

dieStandard.at: Geht es den Kindern heute schon besser?

Alex Jürgen: Ich glaube nicht, weil manchmal melden sich betroffene Eltern bei mir, die sagen, der Arzt dränge auf Operieren und Hormongaben.

dieStandard.at: Ist Ihnen die Konfrontation mit sich selbst auch manchmal zu anstrengend?

Alex Jürgen: So, wie wenn man ein Model 24 Stunden mit einem Spiegel im selben Raum lässt. Aber irgendwer muss einmal anfangen, ich wollte mich einfach nicht mehr verstecken, ich wollte nicht mehr.