Kunst und Kultur
Das Lebewohl (Les Adieux)
Einige schöne Knaben, die Gesichter zu einem ewigen Lächeln geschminkt, in kindlichen, pludernden Spielhöschen, umringen
einen Mann, der ebenfalls den Mund zu einem zeitlos-ewigen Lächeln gemalt hat und zu den Knaben spricht. Den Mund nicht
grotesk-clownhaft, sondern wirklich schön, aber etwas unheimlich, lächelnd, sie streuen dem Mann aus Körben Blütenblätter, die
Knaben. Wenn es zu teuer ist, Knaben zu bekommen, kann man die Blütenblätter auch vom Schnürboden herunterwerfen lassen.
Nein, Mädchen kann man nicht dafür nehmen. Der jeweils angesprochene Knabe wendet sich dem Sprecher des
"Haidermonologs" in schöner, nachdenklich-trauernder Pose zu, in der er eine Zeit lang erstarrt. Man kann es aber natürlich auch
ganz anders machen. Es können auch alle Lederhosen tragen, von mir aus. Außerdem könnte eine Pythia oder ein schlichter
griechischer Mann im Chiton mit dem Textbuch dabei sein und dem Schauspieler, der den Monolog spricht, auf die Sprünge
helfen, den Text immer wieder mit ihm gemeinsam sprechen, wenn der Schauspieler stockt oder nicht weiter weiß. Das wäre gar
kein Hindernis.
Dank an: "news"
Aischylos ("Die Orestie"), übers. Walter Jens
Der Sprecher:
Die Zuversicht vertreiben wir aus dem Land, denn wir sind stark! Entschuldigung, nein, wir bringen sie, die Zuversicht, mit
federleichtem Leib. Wenn wir uns selber anschaun, ist die Angst auf einmal klein. Verlässlich sind wir wie der Tod, jetzt sind wir
da. Noch nicht recht wissen wir wann und wo, egal, wir sind nicht willkommen, überall, doch bei den Guten, die nicht geschändet
werden wollen in ihren Betten, bei denen schon. Das Gift der Schreiberlinge nutzlos tropft zu Boden. Sie verbreiten Lügen, die
Frucht und Feld verseucht. Wir tanzen Polka, Ländler, Plattler, Reigen, doch wir spielen nicht selber den Boogie, nur das nicht,
alles andre schon, und unbekümmert fallen dazu Schnee und Sonne. Uns um den Hals. Nicht fliehn wir, wir hörn auf die Heimat,
die Eltern, vor allem den lieben Vater. Das Land gehört uns, nach langer glücklicher Reise, da wir pflügten durch das, was da
nutzlos gebrüllt vor unserem Bug. Der Zorn der Schreiber, ihr Gift hielt uns nicht auf, wir kamen immer wieder, da die Bürger
beieinander warn und das Gericht über uns in Freuden endet. Jetzt sind wir da. Wir kamen wie gerufen, wir wurden auch gerufen
schließlich! Nichts, was tun wir werden, wird ganz falsch sein und nichts ganz richtig, und nichts wird bringen Gefahr. Es wird sein
wie immer, nur von uns wirds kommen, die Opferkessel rot von Blut. Nicht nur der Krieger unterm Speer, alle müssen bluten so um
die fünfzehn Prozent, nein, doch nicht soviel, vielleicht etwas weniger. Manche wohl viel weniger noch. Verteidigen werden wir uns
nicht müssen. Immer verteidigen werden wir uns müssen. Egal. Vorwürfe werden uns nicht mehr treffen. Das Wasser spritzt so
schön, die Badeanzüge locken, die Surfbretter schneiden die Wellen, und dann schwimmen wir endgültig oben. Knaben, es ist
herrlich! Was ins Freie will? Wir wollen es, und wie gern! Die Tür ist doch offen! Wir taten Unrecht, doch jetzt bekommen wir Recht.
Wir sind ausgewählt. Wir schwören, wir warns nicht, und schon waren wirs wirklich nicht. Unser neues Gesetz durchbricht keine
Ordnung, kein Umsturz von Stund an allüberall! Die Welt wird nicht aus den Fugen sein. Sie wird genauso wie immer sein, nur
eben: offener, freier. Dafür für andre geschlossen total. Wir haben den Durchblick. Tod will Tod. Alter Mord. Neuer Mord. Gar kein
Mord. Egal. Das Schandrecht des Mörders jetzt Ehre! Ihr Anständigen! Niemals ein Ende. Schön. Die Geistesfürsten toben. Sie
schlugen bisher den Takt und schrien uns ihre Fäuste an die Köpfe. Umsonst. Wir sind jetzt da. Zur Untat müssen wir nicht uns
vereinen, wir haben uns zueinander ja längst gesellt, um es Recht zu machen uns selbst. Und allen andern schon geschieht
ebenfalls Recht. Fürchtet euch nicht, Eltern! Ich muss jetzt in mein Bundesland zurückfahren. Doch erzählt, dass ihr mich saht.
Ich sag es auch allen andren weiter. Wir erzählen es den Nachbarn, falls es unsre Nachbarn sind, wir erzählen es den Kindern,
falls es unsre Kinder sind, dass wir Stärke ihnen geben ab sofort. Mit leichter Hand. Und wieder schlagen sie uns, die
selbsternannten Fürsten, die Dichterfürsten, noch einmal, noch einmal. Und wieder sie schlagen nichts als die eignen Köpfe. Der
letzte Schlag gehört uns. Ihre Schädel sollen dröhnen. Die Haarbüschel werden fallen, die Fleischbüschel werden fallen, die Hosen
werden fallen. Alles wird ab sofort lustig sein. Nichts wird traurig sein. Nie wieder unter Stöhnen lernen sollen die Menschen,
überhaupt nicht mehr sollen lernen die Menschen. Sie bleiben ja unter sich, ab sofort, in ihrer eignen Mitte. Uns tut schon der
Mund weh vor lauter vorlautem Zungenschlagen, doch jetzt wirds bald wieder ruhig. Es ist wunderbar, wir haben gefochten, und
jetzt dürfen wir feiern den Sieg. So nennt mans, wenn wir sprechen aus allen Kanälen. Siegen lernen heißt feiern lernen und die
Augen verschließen. Vom Klagegesang zum Jubellied. Nichts mehr vom Grab, nichts mehr vom Tod! Die Lügenpriester: Ihr
Sprechen ist Anklage. Unsers ist: Faust zum Kopf. Faust zum Kopf, klatsch, bumm! Kniescheibe, kracks! Da steht noch ein Wort,
nieder, du Wort, sofort! Was machtest du aus uns, wenn man dich ließe? Her, andres Wort, das richtige, nicht von wirrem Geist:
Könige hat es aus uns gemacht! Seht ihr, wir sind doch ganz harmlos, wenn wir herrschen. Hauptsache herrschen. Wir machen ja
nichts. Und wir haben nichts gemacht. Das Wort heißt: ordentlich. Jeder hats gleich gern, das Wort, das liebe, ders aufgeräumt
mag. Lass dich anschaun, Wort, gut schaust du aus! Duwort - auch gut! Wenn du einmal musst, dann öffnen sich goldene Türen
für dich, da steht: Bedürfnisanstalt für Tugendterroristen. Nur herein, liebes Wort, auch du, und das Wasser rasch ablassen,
gespült wird dann schon selbsttätig werden. Verehren soll jeder Vater und Mutter, doch mehr den Vater. Die Mutter: ohnedies
immer da, von Natur aus schon da. Kühn sein soll jeder. Im Training sein soll jeder, wer weiß, wer da kommt, unsre Peitsche zu
spüren. Wenn wir uns anschaun, geben wir uns schon die richtige Antwort, Satz für Satz und Wort für Wort. Man versteht uns.
Jeder versteht uns. Am liebsten würden wirs fortjagen, das ganze Land, wo immer nur Angeklagte wir sein werden, vor welchem
Gericht?, doch wo herrschten wir dann, und wo wären die Schaulustigen, die uns bewundern? Ich glaube, sie fahren nach Villach,
um einmal ordentlich lustig zu sein. Sie sind nicht von hier. Aber sie kommen gern. Zu uns. Die Arena füllt sich mit Schnee. Alle
geben uns Recht, wenn uns das gefällt. Wir haben keine Mitschuld an der Tat. Wir haben auch keine Morde befohlen. Das kann
man von uns nicht sagen. Wir haben den Fall von Anfang an erörtert: wir warens nicht, und unsre Väter warens auch nicht. Sie
könnens nicht gewesen sein. Ach! Unsere Väter warens vielleicht doch, aber es hat nichts gemacht. Es hat ihnen nicht geschadet.
Wenn Sie so wollen, dann waren sies halt. Es waren abscheuliche, einmalige Verbrechen. Sowas wirds nie wieder geben. Es war
einmal, es ist nicht mehr. Nie wieder, sagen wir! Nie wieder! Und schon bekommen wirs frisch herein, wir warens zwar, gut, wenn
Sies so wollen unbedingt, und wenn wir jemand gekränkt haben, wir bedauern, aber haben wir nicht Recht? Ihr Bürger, hört nicht
auf eure Geistesfürsten, hört lieber auf eure Geisterfürsten! Ich muss jetzt in mein Bundesland zurückfahren. Schaut, dass ihr nicht
tot seid selber, und hört nicht auf die Beller, die ans Bellen glauben, die Empörer, ihr kindisch Gekeife! Freut euch des Lebens! Ihr
Schutzbefohlenen! Seid aufgeweckt und ausgeschlafen! Ist das nicht schön? Früher waren wir der Tod, wir entschuldigen uns und
sind hiemit entschuldet. Wenn Sie so wollen, dann waren wirs halt. Heute sind das ewige Leben wir und können nichts dafür, das
macht kaum einen Unterschied. Sie schreien, wir aber verlangen Gerechtigkeit für uns. Alles für uns! Wir haben uns entschuldigt,
wir haben uns mehr als entschuldigt, und viel mehr können wir nicht tun. Jetzt in die Zukunft schauen. Das Heil sind wir, das, was
nach dem Tod uns erwartet, uns Anständige, die zur Erde zurückströmen, der wir so viele schon gegeben haben. Wir wagten, die
Tat, die wir ersannen, auch auszuführen. Die Erde wird uns schon nehmen, da wir so viel doch ihr gaben. Sie soll uns auszahlen.
Und es soll sich für uns auszahlen. Ihr Schutzbefohlenen! Muss ich denn jetzt wirklich in mein Bundesland zurück fahren? Ja, ich
muss. Wir leben, und so stark und so schön, herrlich ist es, Burschen, zu leben. Wir sind Gewinner, wir warens von Anfang an.
Das ist das Schönste, auch wenn man keinen Preis dafür kriegt. Das muss einem auch egal sein, ob man belohnt wird.
Hauptsache, wir gehören endgültig dazu, und es vertreibt keiner mehr uns. Wenn wir uns anschaun, ist die Angst auf einmal klein.
Den Winkel kennen wir nicht mehr, das Eck, in dem wir standen. Während das Zelt sich füllte mit tollwütigen Rotbackigen, die vor
Freude überflossen. Knaben! Wir sind da und bleiben, niemand muss mehr leiden! Wir sind ganz besonders für alle, die nicht
leiden wollen. Nie wieder. Nie wieder Einsamkeit. Nie wieder fremd sein. Nie wieder eigentümlich sein. Sich nie wieder absondern.
Wir sind gegen viele. Wer zählt uns? Es sind ja die Wählerstimmen, die zählen. Die anderen sind jedenfalls mehr. Alle sind mehr
doch als viele! Wir sind alle, und wer noch fehlt, den verrechnen wir nachher miteinander. Mit dem rechnen wir ab. Wir rechnen ihn
gegen die anderen auf, und der Verlierer muss zahlen. Es wird keinen geben, denn wir alle sind jetzt die Gewinner. Offen muss
jeder sein, nicht mehr für den Schein. Für das Wahre, das wir sagen, für das Scheinen unsres Lichts, dem manche noch
ausweichen. Aber nicht mehr lang. Wir werden Nachsicht walten lassen, aber nicht mehr lang. Wir sind angefordert von jedem, der
da ist: anständig, tüchtig, fleißig. Die vielen zählen nicht mehr, denn wir sind jetzt da. Wir sind alle. So muss ich denn muss ich
denn in mein Bundesland fahren. Knaben, wir sind ein Land voller Schaulustiger, und wir werden auch von der Weltpresse
beobachtet in unserm Versteck, wo wir spielen wie die Fohlen, die der Hafer sticht. Sie entscheiden, was sie sehen wollen. Die
Journalisten, geschirrt gehören sie unters Joch. Sie drücken den Knopf. Wir drehen das Rad. Sie wollen immer sehen, was sie
ohnedies schon sehen. Ich bedenke mich jetzt, nach bangen Stunden, die ich brauchte, soll ich zurücktreten oder soll ich ganz
nach vorne treten? Am besten ich trete zurück und nach vorn gleichzeitig, denn quälen will ich mich nicht, höchstens beim Laufen
wohin. Führende Persönlichkeiten! Vernünftig! Vernünftig! Das Schönste ist sie für Ausnahmenaturen, die Vernunft, sie findet im
Wohnzimmer statt und entwickelt sich immer besser, wenn leuchtend ein Bild erscheint und am liebsten stets mich einherträgt,
mich und euch Knaben an meiner Seit, mich Götterliebling, ja, mindestens jeden zweiten Tag trägt mich das Licht, und ich stelle
mich ihm gern zur Verfügung. Stelle mich, um auch weiterhin als Zugpferd in den Bundesländern zur Verfügung zu stehen.
Weinen, das kann ich jetzt nicht. Ich muss in die andern Bundesländer auch noch fahren. Mehr als ein Jahrzehnt anpatzen und
diffamieren, wie man es mit mir gemacht hat, das ist vorbei. Für die Wende arbeitete ich, Kind, das wirst du nie vergessen können!
Dass du nicht stirbst! Nein, komm lieber, komm! Wie ein Mann ohne Ehre sein will ich nicht, ich will zu den Ehrenwerten, und
brächten sie Krieg ins Volk, ich will, ich will, ich bin bereit! In so einer Situation muss man konsequent sein. Ich musste
miterleben, wie meine Familie, meine Familie, die Schönen, die Guten, Gescheiten, die vor Blondheit Strotzenden, von brutal
Gewalttätigen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Doch meine Leidenschaft gilt viel mehr noch euch, Burschen, ihr Herrlichen,
Guten. Wie gute Tropfen kommt ihr über meine Lippen, auch gut. Misslaute die anderen, Hunde, vor die die Republik geht, von mir
aus nicht. Von den andren aus. In außerordentlichen Situationen ist Klugheit ja nicht verboten. Freunde, ihr lieben, ich sag euch,
ich sag euch, Funktionäre, Montag Abend, ihr Guten, heimlich kommen sie, zögernd, doch dann rinnt es, ein Fluss, und es
kommen noch mehr, immer neue strömen herbei. Knaben! Zu euch gehör ich, nicht wie ein Tier will ich gehalten sein, ich will
hinaus. Jeder Sonne ihr eigenes Studio zum Scheinen, dies meine Forderung. Ich will das echte Licht, das reine, doch find ich es
nicht, hilft mir das künstliche auch. Komm nur her da, hilf gegen den Feind, Licht! Das Dunkel will uns stürzen und unsren Boden
sehen, doch den zeigen wir nicht, den dunklen Boden, in dem wir das Schweigen versenkten. Diese Verbrechen waren so
entsetzlich verbrecherisch, das kann ich ohne Nachsicht sagen. Jetzt sprechen wir so und denken anders und wo anders, Sie
sehen es nicht, aber wir denken auch, nur eben anders, herrlich, herrlich! Aber entsetzlich natürlich schon auch. []
© Rowohlt Verlag
Der obige Textauszug umfasst etwa ein Drittel des Monologs. Der gesamte Text ist nachzulesen in der Mai-Ausgabe der
Zeitschrift "Theater Heute".
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