Günther Anders degradierte den Menschen zum bloßen "Bedienungspersonal" einer Technologie, die den sozialen Systemen den Rang abläuft.

Foto: Standard/Portrait Günther Anders. Deutschland. Photographie von Horst Tappe 1984. / IMAGNO/ Ullstein

Sind Neoliberalismus und Globalisierung die Grundpfeiler der heutigen Welt? Der österreichische Philosoph Günther Anders sah das Primat des Sozialen und Ökonomischen zugunsten eines Primats des Technologischen verschwinden. Eine neue Biografie will sein Denken für die Gegenwart aktivieren.

In den vergangenen 15, 20 Jahren hat sich eine neue Geschäftigkeit breit gemacht, der man sich nur schwer entziehen kann. Schnell gilt es zu sein, professionell und flexibel – in allen Lebenslagen. Als Ursache für diese Entwicklung wird meist die totale Ökonomisierung der Welt betrachtet, hinter der eine politisch-ideologische Kraft ausgemacht wird – der Neoliberalismus, der im Zusammenspiel mit der Globalisierung das Denken, Handeln und die Befindlichkeit der Menschen fundamental verändert.

Was aber, wenn dem nicht so ist? Wenn diese Veränderung primär nichts mit Ideologie oder dergleichen zu tun hat? Wenn stattdessen die Ursache die Technologie ist, das Entstehen und Wirken gewaltiger technischer Systeme, die die tonangebenden Gefüge und Netzwerke auf diesem Planeten darstellen?

Ohne Rücksichtnahme

"Technologie braucht heute teilweise gar keine Ökonomie mehr, um sich zu entwickeln. Es ist heute so viel Geld da und im Spiel, dass die technologische Entwicklung ihrer eigenen Dynamik folgen kann, ohne auf Geld und damit auf Ökonomie Rücksicht nehmen zu müssen", sagt der in St. Wolfgang lebende Raimund Bahr, Historiker, Kultur- und Wissenschaftsmanager und Günther-Anders-Spezialist.

Günther Anders ist jener Philosoph, von dem das Bild stammt, dass unser Leben von Technologien, damit von technischen Systemen bestimmt wird, die den sozialen Systemen den Rang als Horizont, vor dem wir uns bewegen, abgelaufen haben. Anders war es auch, der den Menschen als "Bedienungspersonal" bestimmte, das bloß noch für das Funktionieren der komplexen technischen Systeme zu sorgen hat. Die Technik ist anstelle des Menschen zum "Subjekt der Geschichte" geworden. Womit das, was normalerweise Geschichte – von Menschen gemachte Geschichte – genannt wird, auch still und heimlich zu Ende geht.

Ein beunruhigender Gedanke, speziell heute, nachdem die Welt durch die ganz harmlos als "Digitalisierung" bezeichnete Revolutionierung von Wirtschaft und Alltag "hypertechnologisiert" worden ist. Umso erstaunlicher mutet es an, dass nach wie vor keine umfassende Günther-Anders-Biografie existiert – weshalb Raimund Bahr, gefördert vom FWF, derzeit eine schreibt.

Was in jedem Fall lohnend erscheint. Denn an Anders – er starb 1992 mit 90 Jahren in Wien, in das er nach seiner Emigration in die USA noch in den Vierzigerjahren zurückgekehrt war – lässt sich gut andocken. Allein schon deshalb, weil er für die gegenwärtig so hoch geschätzte Kategorie "Ökonomie" nicht blind war, sondern ihr sogar in seinem Denken lange Zeit das Primat gab. Bis Anders die Technologie zur zentralen Kategorie des philosophischen Denkens machte. Konkret jene Technologie, die offensichtlich für ihre Entwicklung keine Ökonomie mehr braucht und für die der schöne Satz "Wir können uns unser Herstellen nicht mehr vorstellen" gilt.

Was ja tatsächlich der Fall ist, denn "wer von uns", fragt Raimund Bahr, "kann noch sagen, wie der Automotor, an dessen Produktion sie oder er vielleicht sogar indirekt beteiligt war, funktioniert?"

Ohne Einflussbereich

Genau an diesem Satz wird auch die Herrschaft der Technik deutlich. "Denn wenn der Einzelne nicht mehr weiß, was er herzustellen mitgeholfen hat, verliert er an Einfluss." Und mit ihm, behauptet Bahr, der Mensch und "das Soziale" überhaupt: Es wird nachrangig und zu einem Anhängsel eines Systemgefüges, das von anderen Größen und Dynamiken bestimmt wird: von technologischen. Was sich für Bahr dann auftut, ist die "Welt ohne Mensch", von der Anders immer wieder gesprochen hat, und für die sich nach wie vor die Frage stellt, "wie wir diese theoretisch überhaupt fassen können".

Und das ist tatsächlich eine essenzielle Frage: In einer Welt, in der das Ökonomische, Soziale und Politische im Mittelpunkt steht, geht es letztlich um Verteilungsfragen – und damit um zutiefst Menschliches: Um Macht, Besitz, Geschlecht und Klasse. Aber in einer Welt, in der die Technologie das Sein bestimmt? "Die Technik, hat Anders richtig erkannt, hat kein Geschlecht, keine Klasse oder dergleichen mehr." Womit es schwierig wird, "ein Machtgefälle innerhalb der Technik zu konstituieren". Was nichts anderes bedeutet, als dass die klassischen politischen Konzepte und Kategorien, die ja auf Macht- und Verteilungsfragen beruhen, in einer technologisierten Welt nicht mehr funktionieren können.

Ohne Zusammenhänge

Allerdings hat man hier schon das Denken von Günther Anders verlassen und ihn weitergedacht. Was Bahr, wie er sagt, in seiner Anders-Biografie auch tut – wenn auch nur in einem Kapitel. Der restliche Platz gehört Anders selbst, dem Menschen wie dem Werk, das Bahr im Übrigen erstmals in einer Art "Zusammenschau" gelesen hat: In der Regel konzentrieren sich Anders-Rezipienten nämlich auf einzelne Werke. Noch nie wurde aber versucht, die Kontinuität und Zusammenhänge herauszuarbeiten, die es nach Ansicht Bahrs bei Anders sehr wohl gibt: "Anders war zwar, wie er selbst sagte, ein ,Gelegenheits-Philosoph', das heißt, er nahm Ereignisse wie den Atombombenabwurf auf Hiroshima zum Anlass, um um diesen herum Gedanken und Texte zu entfalten." Doch sieht man genau hin, entdeckt man, dass diese Art des Philosophierens am Ende der – über viele Bücher und Schriften verteilten – Ausarbeitung einer Theorie diente.

Diese Theorie, lautet Bahrs These, ist eine Kulturtheorie der Vernichtung von Menschen im 20. Jahrhundert, die am Ende zur "Welt ohne Mensch" führt und die Technologie zum neuen Subjekt der Geschichte erklärt. Sie ist Anders' Großleistung, die von vielen weiteren kleineren und größeren Theorien flankiert wird. "Etwa von der Ausarbeitung von Kriegsmustern, die sich im 20. Jahrhundert erkennen lassen." Oder vom Arbeiten an einer existenzialistischen Lebensposition, die Anders schon in Jugendjahren zu beziehen beginnt.

Tatsächlich ist das Werk von Anders so reichhaltig, dass die Biografie drei Bände umfassen wird. Außerdem soll ja auch sein nicht theoretisches Leben transparent gemacht werden, in dem Beziehungen zu Frauen eine fundamentale Rolle spielten. Doch bis dahin wird es noch dauern: Erst 2008 wird das dreibändige Werk erscheinen. Um Günther Anders als den zu präsentieren, der er ist: einer der bedeutendsten Philosophen, der in Österreich gelebt hat. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.5. 2006)