Scott Walker und "The Drift": Verstörung zwischen Pop und Egozentrik.

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Elf Jahre nach seinem existenzialistischen Meisterwerk "Tilt" kehrt der 63-jährige Poptragöde Scott Walker mit einem bedrückenden wie unerhörten Album zurück. Zwischen Neuer Musik, Pop, Taschenoper und Wahnsinn erlebt man "The Drift".


Wien – Ein wenig klingt es nach sieben quälenden Minuten im zentralen Stück "Clara (Benito's Dream)" so, als ob hier tatsächlich im Schlachthaus mit bloßen Händen auf eine Schweinehälfte eingeschlagen würde. Und es ist so. Der große US-amerikanische und seit mehr als 40 Jahren der schönen und morbiden europäischen Hochkultur wegen in London lebende Poptragöde Scott Walker hat nur elf Jahre nach dem letzten Soloalbum "Tilt" schon wieder sein Schweigen gebrochen.

Für Freunde seines ersten und Mitte der 70er-Jahre wegen Überdrusses und Drogenproblemen endgültig abgelegten Lebens als Teil der Walker Brothers, die mit dem nachtschwarzen, süß-fauligen Orchesterschmalz- und Einsamkeits-Evergreen "The Sun Ain't Gonna Shine Anymore" und vor allem wegen Scotts dunkel schimmernder, vom Tenor Richtung Bariton brechender Jahrhundertstimme noch heute bei Radio Burgenland für Tränen in Erbschleichersendungen sorgen:

Man wird nach seinen seit 1984 im elfjährigen Abstand abgelieferten, zunehmend abweisenderen und kryptischeren wie von Lalelu-Verzweiflung Richtung Selbstmordkommando bei den Musiktagen in Donaueschingen tendierenden Soloalben "Climate Of Hunter" und "Tilt" auch jetzt wieder keine Freude mit diesem, dem Wahnsinn mehr als 70 Minuten eine Chance gebenden Alterswerk eines 63-jährigen Monomanen haben.

Scott Walker, bürgerlich Noel Scott Engel, hatte Ende der 60er-Jahre in Großbritannien aufgrund seiner Popularität sogar einmal eine unglaublich beliebte eigene Fernsehshow. Er zählt spätestens seit seinem radikalen Rückzug nach dem letzten Album der Walker Brothers, "Nite Flights" aus 1978, und zuvor vier bahnbrechenden Soloversuchen als angloamerikanische Antwort auf Jaques Brel wegen geradezu pathologischer Öffentlichkeitsverweigerung zu den mysteriösesten Gestalten der Popgeschichte.

Er will uns als Hüter der Pforten zu jenem existenziellen Horror, mit dem uns auch einmal Joseph Conrad in Herz der Finsternis konfrontierte, mit dem jetzt vorliegenden Album "The Drift" und der besagten Eloge "Clara" eines sagen. Wenn man sich ganz weit hinaus in eine schreckliche Stille lehnt, aus der uns dann fremde Stimmen unter die Bettdecke treiben, wird unter anderem aus dem tatsächlichen Sound des Ganges alles Irdischen am Beispiel eines noch nach dem Tode geschlagenen "Nutztieres" eine höhere Form von Wahrheit gewonnen. Die kann man zwar auch nicht von Künstlerseite aus wirklich erklären. Schrecklich klingen aber tut sie allemal.

Todesfugen

Auch als Lyriker ist Walker mittlerweile vom vergleichbaren Leichtgewicht und Schüler Nick Cave Richtung Paul Celan und skizzenhafte Todesfugen abgewandert. Musikalisch einmal mehr unter Mithilfe eines großen Orchesters und alten britischen Progressive-Rock-Haudegen entstanden, führt Walker jetzt seinen steinigen Weg aus den Hitparaden in die Subkultur des Noise und der Neuen Musik unduldsam fort.

Zwar komponierte Walker 1999 aus den Versatzstücken von Tilt nicht nur den durchaus gefälligen Soundtrack für Léos Carax' "Pola X" und sang im gleichen Jahr einen Song für den James-Bond-Film "The World Is Not Enough" ein. 2002 produzierte er auch "We love Life", das letzte Werk der britischen Pop-Eklektiker Pulp.

Nachdem er aber schon 1978 mit den Walker Brothers im Song "The Electrian" südamerikanische Folterpraktiken mit Frank Sinatra, in den Himmel auffahrenden und zu Tode stürzenden Streicher- Glissandi und sinistrem Rock kombinierte, will Walker nun auch bewusst mit zunehmend farb- und konturloserer, ja, erstickender Stimme nicht nur darauf hinweisen, dass die Wurzeln des Faschismus in Todessehnsucht wie reiner Mordlust begründet liegen.

Ausgehend von den Filmaufnahmen, die gemacht wurden, als der italienische Diktator Benito Mussolini gemeinsam mit seiner Geliebten Clara Petacci 1945 in Mailand vom Mob umgebracht und verkehrt herum auf der Straße aufgehängt wurde, bricht in den zwölf Minuten von "Clara" oder auch in Stücken wie dem 9/11-Song "Jesse", in dem über dem dekonstruierten Grundmotiv von Jailhouse Rock reichlich abgehoben Elvis Presley in Dialog mit seinem tot geborenen Zwillingsbruder tritt, jetzt brutal das akustische Chaos ein. Es zerstört die Zwillingstürme von New York: "Pow! Pow!"

An anderer Stelle ist ein brutales Sample der artverwandten und von Scott Walker 2000 als Kurator des renommierten Londoner Meltdown-Festivals eingeladenen Linzer Elektronik-Rock-Terroristen Fuckhead zu hören. Keine leichte Kost für schwere Tage. Ein Album, wie es nur alle elf Jahre kommt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.5.2006)