Stadtgeschichten von Thomas Rottenberg

Auch als Buch: Die besten Stadtgeschichten aus dem Stadtgeschichten - Archiv - zum Wiederlesen & Weiterschenken. "Wiener Stadtgeschichten" mit Illustrationen von Andrea Satrapa-Binder, Echomedia Verlag Ges.m.b.H., ISBN 3-901761-29-2, 14,90 Euro.

Es war vor Wochen. Aber letztens traf ich F. zufällig in der U-Bahn und er sagte mir, dass das Fenster nun wieder da sei. Und er hoffe, dass es dableiben würde. Obwohl es – F. deutete an die Decke des U-Bahn-Zuges, gerade so, als drohe auch hier Gefahr – insgesamt auf ein Oberlicht mehr oder weniger wohl nicht ankäme.

F. hatte mich davor angerufen. Und gefragt, ich wisse, wo sein Fenster sei. F. wohnt nämlich in meiner alten Wohnung. Sechster Bezirk, vierter Stock, straßenseitig, Altbau. Mit dementsprechenden Fenstern: Doppelflügelig-hochformatig und nach innen zu öffnen, plus Oberlicht obendrüber – querformatig. Alt. Sehr alt.

Glasscherben

Er sei, hatte mir F. am Telefon erzählt, gerade von einem dreiwöchigen Urlaub nach Hause gekommen. Und zuerst sei ihm das mit dem Fenster auch gar nicht aufgefallen – nur dass irgendwas anders war als beim Wegfahren, habe er gespürt. Aber dann, so F., habe seine Frau die Glasscherben gefunden: Zwischen einem inneren und einem äußeren Fensterflügel seien die gelegen. Erst da, erzählte F., sei ihnen aufgefallen, dass das Oberlicht verschwunden war: Es war weg.

Ich verstand nicht: Wie „weg“, fragte ich. Na weg-weg, antwortete F. Verschwunden. Und zwar ganz: Scheibe und Rahmen. Zwischen den unteren Scheiben seien lediglich ein paar Scherben gelegen. Er sei, hatte F. Verständnis für mich, zuerst ebenso erstaunt gewesen. Und habe kurz sogar an einen Einbruch gedacht. Bloß: Zum einen wäre ein Einbruch über ein Außenfenster im vierten Stock um einiges umständlicher, als das Aufbrechen einer Wohnungstür. Zum Anderen hätte ein Einbrecher wohl zumindest ein Innenfenster demoliert – und vor allem: es fehlte nichts. Abgesehen von dem einen Fensterflügel.

Ausgerissene Scharniere

Deswegen, setzte F. fort, habe er dann genauer nachgeschaut. Und festgestellt, dass auch die beiden Scharnierblätter, die das Oberlicht einmal gehalten hatten, aus verschwunden waren. Und – ob ich das gewusst hätte, fragte F. – das Oberlicht wäre im Gegensatz zu den normalen Fensterflügeln nach außen aufgegangen.

Ich verneinte. Ich hätte in all den Jahren in denen ich in dieser Wohnung gewohnt hatte, kein einziges Mal auch nur daran gedacht, die Oberlichten zu öffnen: Beim Putzen war zuerst ich – später meine Putzfrau – wie geistesgestört auf dem Fensterbrett herumgeturnt. Und einmal, als ich die Fensterstöcke gestrichen hatte, hätte ich einfach Stock und Rahmen in einem Zug überhiaselt.

Alte Verordnung

Das mit dem Nach-Außen-Aufgehen, referierte ich, verwundere mich im Übrigen. Ich hätte ich schließlich einmal irgendwo gehört, dass es in der Gründer- oder k.u.k.-Zeit Verordnungen gegeben habe, die vorgeschrieben hätten, dass straßenseitige Fenster immer nur nach innen aufgehen dürften. Wegen der Absturzgefahr. Nicht der der Fensterputzer, sondern der Fenster.

Ja, bestätigte F. – im echten Leben Jurist – an derlei erinnere er sich auch. Umso schlimmer schiene ihm der Gedanke, dass sich da einfach ein Fensterflügel losgerissen und vier Wiener Altbaustockwerke in die Tiefe gerasselt sein dürfte. Er habe vor allem deshalb angerufen, um zu erfragen, ob vielleicht Behörden, Nachbarn oder Hausverwalter versehentlich mich statt ihn davon in Kenntnis gesetzt hätten, dass die von uns genutzte Wohnung gemeingefährlich sei. Ich verneint, schloss mich F.s „na servas“ an – und überließ alles weitere F- und der Hausverwaltung.

Schockierter Hausverwalter

Später, als wir uns dann in der U-Bahn zufällig trafen, erzählte mir F. dann, wie die Geschichte weiter gegangen war: Auch der Hausverwalter sei aus allen Wolken gefallen. Und habe – dem akustischen Anschein nach – ehrlich schockiert gemeint, er wisse nicht, ob er sauer oder froh sein solle, nichts von dem Vorfall gehört zu haben: Schließlich bedeute das ja, dass niemand durch den abstürzenden Fensterflügel verletzt worden sei. Um den Rest – also auch die Überprüfung der übrigen Fensterflügel - werde sich der Tischler kümmern.

Der, so F., wäre rasch gekommen. Und entspannt geblieben: Die anderen Oberlichten nicht sonderlich gefährlich – und die eine eben zufällig abgestürzt. Warum und wie so etwas möglich sei? Der Tischler habe mit den Schultern gezuckt: Keine Ahnung. Nur sei das eigentlich nichts Besonderes. Gerade bei Altbaufenstern. Da käme so was eben vor. Das ließe sich bei alten Fenstern weder vorhersagen noch wirklich verhindern. Aber meistens ginge die Sache ohnehin glimpflich aus.

Dann habe der Tischler, erzählte F., Maß genommen und sei wieder abgezogen. Eine Woche später sei das neue Oberlicht gekommen. Aber seither, so F., habe er an windigen Tagen mitunter ein mulmiges Gefühl.