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Sätze, die Kerker öffnen können: Henrik Ibsen hat gegen die Zumutungen der herrschenden Klasse revoltiert und dort sein Dynamit gezündet, wo die bürgerlichen Normen wie Granit erschienen. Das Foto links zeigt die "Peer Gynt"-Inszenierung der Salzburger Festspiele 2003. Das kleine Bild unten entstand 1900 in Oslo, sechs Jahre vor Ibsens Tod.

Foto: Reuters/Leonhard Foeger

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Henrik Ibsens Todestag jährt sich am 23. Mai 2006 zum 100. Mal

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Henrik Ibsens Blick auf die Welt ist der Blick eines Mannes, der schon früh desillusioniert wurde. Ibsen hat in seiner Kindheit schlimme soziale Demütigungen hinnehmen müssen. Sein Kampf gegen die Stützen der Gesellschaft speiste sich aus dieser traumatischen Erfahrung. Die Erniedrigung, die der am 20. März 1828 in Skien geborene Ibsen in seiner Kindheit durch den Bankrott seines Vaters erfuhr, hat seine Wahrnehmung bis zu einer schmerzenden Klarsicht geschärft. Das allgemeine Urteil über Ibsen lautet, dass er ein abgrundtiefer Pessimist ist.

Der Regisseur Peter Zadek hat den norwegischen Dramatiker aus diesem Grund in einem Gespräch, das der Autor mit dem Regisseur über seine Rosmersholm- Inszenierung (Akademietheater, 2000) geführt hat, als "gloomy Ibsen" bezeichnet: "Ich kann Ibsen am besten im Vergleich mit Tschechow beschreiben, der mindestens so viel von Menschen versteht, wenn nicht gar mehr als Ibsen, der aber nicht gloomy ist. Tschechow ist manchmal tragisch, aber nicht gloomy. Tschechow ist im Grunde kein Pessimist, obwohl seinen Figuren immer schreckliche Dinge passieren. Sie sterben, sind traurig und sehnen sich nach Moskau. Ibsens andauerndes Verhalten kann nichts in Ruhe lassen. Ibsen ist ein andauernder Wahrheitssucher, was ich wunderbar finde, aber er ist von einer unbeschreiblichen, penetranten Unnachgiebigkeit gegenüber den Menschen. Ibsen liebt die Menschen, wie man im Labor Ratten liebt, die die Wände hinaufklettern. Ibsen sieht zu, ob sie einen Meter oder einen Meter und zehn Zentimeter klettern. Das ist sicher auch eine Form von Liebe. Ibsen ist eben Wissenschaftler." In Ibsens Werk stehen die permanente Revolte, die Verwundung und Zerstörung der Kinder und die Herrschaft des Todes im Zentrum seines literarischen Schaffens. In einem berühmt gewordenen Gedicht hat Ibsen seine Weltsicht und die Maxime seines Schaffens dargelegt: "Leben heißt - Trolle tief / In Herz und Seele bekämpfen. / Dichten - Jüngstes Gericht halten / Über sein eigenes Ich."

Ibsen hat sich zeitlebens gegen die Einordnung in politische, soziale und philosophische Systeme zur Wehr gesetzt. Einem Freund, der klare Positionen in Ibsens literarischem Schaffen vermisste, antwortete er mit dem Gedicht "An meinem Freund, den revolutionären Redner": "Ich spiele bei Schach nicht mit. / Werft das Brett um, dann bin ich dabei. (...) / Ihr liefert die Sintflut der Welt. / Ich sprengte gern die Arche." Mit seiner Dichtung hat Ibsen die engen Grenzen der Welt gesprengt. Er hat gegen die Zumutungen der herrschenden Klasse revoltiert und dort sein Dynamit gezündet, wo die Normen des bürgerlichen Zusammenlebens wie Granit erschienen: in der Kindererziehung, in der Ehe, in den Ketten der Abhängigkeit, die im Kapitalismus gegeben sind. In den Stücken Gespenster, Nora oder ein Puppenheim, Hedda Gabler und Rosmersholm fliegt das auf Lüge gebaute Mit-und Nebeneinander in die Luft. Peer Gynt kann man als einen einzigen Protest gegen die Zumutungen des Lebens verstehen. Peer Gynt irrt durch die Welt, und die Glücksversprechungen erweisen sich als die Schalen der berühmten Zwiebel, die keinen Kern hat. Das Bild der kernlosen Zwiebel steht an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Diese Metapher ist nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dramen von Samuel Beckett und in den 1970- und 80er-Jahren von Thomas Bernhard weiter entfaltet worden.

Wie in der übrigen Literatur des 19. Jahrhunderts rückt auch bei Ibsen das verwundete und zerstörte Kind in den Mittelpunkt der Reflexion. In den Werken von William Blake, Fjodor M. Dostojewski, Charles Dickens und Arthur Rimbaud wird das Leiden von physisch und psychisch verwundeten Kindern beschrieben. Im Werk von Henrik Ibsen gibt es viele beschädigte, verkrüppelte und tote Kinder. Hedwig steigt in der Wildente auf den Dachboden und erschießt sich selbst.

In Klein Eyolf wird ein Bub dadurch zum Krüppel, weil er vom Tisch fiel, als seine Eltern sich liebten. Rebekka West in Rosmersholm ist von Dr. West missbraucht worden. In dem Familiendrama Gespenster brennt ein Kinderheim ab. Der Tischler Engstrand wird verdächtigt, das Kinderheim in Brand gesteckt zu haben. Man könnte noch einmal die Frage stellen, was bei der ersten Begegnung zwischen dem Baumeister Solness und Hilde Wangel geschehen ist.

Den besten Versuch einer Antwort hat der amerikanische Ibsen-Forscher Michael Goldman gegeben, der anhand dieser Frage eines der größten Probleme in den europäischen Gesellschaften des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts reflektiert: "Did Europe in the nineteenth century begin to abuse its children as never before, or did it rather begin to acknowledge how widespread this use was, indeed that its culture might be founded on child abuse?" (...) The question is unanswerable: Did Halvard Solness pause on his upwardly mobile track (...) to crush an impressionable thirteen-year-old girl to his body and kiss on her lips, or was there simply a moment, when, simultaneously, she imagined it and he desired it? We never know, we can never know, but it destroys them both."

Halvard Solness versteht seine Arbeit als eine Herausforderung Gottes. Vielleicht war der Verlust der beiden Kinder für ihn zu schmerzvoll, als dass er noch an einen allmächtigen und allgütigen Gott glauben kann. Der Baumeister Solness setzt sich an die Stelle Gottes und lebt eine Allmachtsfantasie aus. Solness' Narzissmus führt in den Untergang. Er lässt sich von Hilde Wangel auf den Turm treiben und stürzt in den Tod.

Bilder des Todes ziehen sich durch das gesamte dramatische Schaffen Henrik Ibsens. Am Ende der Gespenster stößt ein völlig einsamer junger Mann, dessen Leben sich zu Ende neigt, einen letzten Schrei aus: "Mutter, gib mir die Sonne." Hedda Gabler erschießt sich unter dem Gemälde ihres Vaters, von dem sie zwei Pistolen geerbt hat. Hedda Gabler hat den Ausbruch aus den Konventionen und Zurüstungen der Gesellschaft gesucht. Sie findet diesen Ausweg nur im Selbstmord. In Rosmersholm gehen der Pastor Johannes Rosmer und Rebekka West gemeinsam in den Tod. Rosmers Ehefrau hat sich schon davor das Leben genommen. In Wenn wir Toten erwachen wird der Bildhauer Rubek und sein früheres Modell Irene von einer Lawine in den Tod gerissen. Peer Gynts Leben ist eine Flucht, eine Fuge. Peer Gynt erfindet sich andauernd ein Leben, in dem er sich selbst sucht und verliert. Der Ausbruch aus dem engen Tal seiner Kindheit schließt sich in einer Kreisbewegung mit der Rückkehr zum Ausgangspunkt der Reise um die Welt.

Im Laufe des Lebens, das Peer Gynt mit Energie durchschritten und maßlosen Unternehmungen förmlich zugeschüttet hat, ist ein Mann erkennbar geworden, der einsam durch die Tage, Monate und Jahre gegangen ist. Nun steht die letzte Entscheidung an. Michael Goldman kommt in seinen Peer Gynt-Überlegungen immer wieder zu den letzten Augenblicken des Stücks zurück: "Wenn Peer der große Geschichtenerzähler ist, sollten wir an die Macht der Erzählung denken, die einen Schluss endlos hinauszuzögern vermag. Jeder Geschichtenerzähler ist eine Scheherazade, deren Begabung darin lag, den Tod aufzuschieben, indem sie sich Geschichte auf Geschichte ausdachte, um die letzte Konfrontation zu vermeiden. (...) Und man kann sagen, dass das Stück an seinem Ende zwei Wege zugleich geht: auf die letzte Konfrontation - das Jüngste Gericht - an den Kreuzwegen und zugleich die unbestimmte, besänftigende Verzögerung zu, die von Solveigs Liebe angeboten wird. ,Schlaf denn, teuerster Junge mein', singt sie ihm leise wie eine Frau und Mutter. ,Sie spielten zusammen ein Leben lang. Der Junge hat an der Brust seiner Mutter geruht sein Leben lang.' Peer ist nach Hause zurückgekehrt, zur Quelle allen Erzählens - zur Mutter, die ihr erregtes Kind beruhigt und beschützt. (...) Ibsen lässt eine weitere Stimme auf ihrer Geschichte beharren - das Jüngste Gericht, das jede Arche in die Luft sprengt, die Stimme, der man allein gegenüber stehen muss, die von der Straße heraufruft, von der Hinterbühne, vielleicht der Rückseite des Hauses."

In Peter Zadeks Inszenierung (Berliner Ensemble, 2004) umfasst Peer Gynt nicht Solveig. Er birgt auch nicht sein Gesicht in ihrem Schoß. Uwe Bohm krümmt seinen Rücken. Solveig (Annett Renneberg) hat ihre linke Hand auf die Schulter von Peer Gynt gelegt, mit der rechten hält sie den Oberarm fest. Der Kopf von Peer Gynt liegt auf einem Oberschenkel. Die Haare sind wirr, und die Augen geschlossen. Die Finger von Peer Gynts rechter Hand krallen sich in die Kniekehle von Solveig. Peer Gynt ist völlig erschöpft am Ende seines Lebenswegs angekommen. Solveig blickt Peer Gynt nicht an. Sie blickt zur Seite. Es ist, als könnte sie nicht fassen, dass sie nach langen Jahren des Wartens nun Peer Gynt in ihren Armen hält. Sie spürt, dass die Stunde des Todes nahe ist. Sie starrt in die Leere, als könnte sie dort eine Antwort auf das Geheimnis ihres Lebens finden. Solveig singt ihr letztes Lied. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.5.2006)