Cover: Süddeutsche Kriminalbibliothek
Der klassische englische Krimi benötigt sowohl fragwürdige Typen aus besseren Kreisen als auch einen diese Figuren überschaubar isolierenden, möglichst geschlossenen Raum der Handlung. Darum spielen Agatha Christies Bücher oft in vornehmen Landhäusern (es muss keineswegs immer der Gärtner den Mord begangen haben) oder in elitären Clubs und Hotels. Auch Züge, wie den Orient-Express oder sogar Raddampfer für Nil-Reisen durch Ägyptens historische Vielfalt setzte die erfolgreichste Krimi-Autorin aller Zeiten ein.

In ihrem berühmten und mit Peter Ustinov in der Hauptrolle verfilmten Kriminalroman "Tod auf dem Nil" bot Agatha Christie - die sich für Archäologie interessierte, übrigens einst den Wunsch hatte, Pianistin zu werden und in späteren Jahren begeisterte Bayreuth-Besucherin war - eine enorm komplizierte Folge mehrerer Morde. Aber der hier beinahe überforderte klug-eitle französische Detektiv Hercule Poirot durchschaut schließlich alles. Die clevere, wunderhübsche Millionenerbin Linnet Ridgeway hätte ihrer besten Freundin eben doch nicht umstandslos den Geliebten ausspannen sollen . . . Man folgt heiter-gebannt, dann hilflos verwirrt, am Ende überwältigt.

Eine Bewährungsprobe für die Qualität von Krimis stellt die zweite Lektüre dar. Da spielen Mordkonstruktion und Aufklärungsspannung keine dominierende Rolle mehr. Unabgelenkt vom "Who's done it?" schaut man der Autorin auf die Schreibefinger und bewundert entwaffnet: Längst bevor Leichen nach Aufklärung und Bestrafung ihrer Mörder lechzen, formuliert Agatha Christie mit unschlagbarer Wortgewalt und Fülle an Details und Einfallsreichtum - mit einer witzigen Subtilität, die fesselnder wirkt als alle kriminalistischen Knalleffekte.

Denn Agatha Christies Figuren gewinnen ein erstaunliches Eigenleben. Gewiss spürt man, dass diese Autorin dramaturgisch präzise plant. Aber noch bemerkenswerter: Figuren voller krimineller Energie geraten unter den Händen, ja vielleicht sogar gegen den Willen ihrer Erfinderin unwiderstehlich sympathisch, tugendhafte Diener der Gerechtigkeit wirken umso blasser oder blasierter. Was antwortet eine weltkundige Millionärin ihrer Freundin auf die Frage, wie denn Architekten seien? "Ach, in Ordnung. Allerdings fand ich sie manchmal ein bisschen unpraktisch." Ohne mindeste Sentimentalität gesteht die vornehme Joanna: "Wenn Freunde von mir irgendwie in die Bredouille kommen, lasse ich sie sofort fallen! Das klingt zwar herzlos, aber es erspart einem viel Ärger hinterher!"

Über solche schriftstellerische Energie verfügt Agatha Christie. Sie kann es sich darum vergnügt und in gewisser Weise selbstironisch leisten, in "Tod auf dem Nil" ihre eigentlich nette Mrs. Allerton spötteln zu lassen: "Warum finden Männer Kriminelles eigentlich so toll? Ich hasse Detektiv-Geschichten, ich lese sie nie."

Man bedauert die Dame. Entgeht ihr nicht das Vergnügen an Agatha Christies schriftstellerischem Genie? (DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2006)