Das Jahr 1986 bezeichnet eine Wendemarke nicht nur in der österreichischen Politik, sondern auch im Selbstverständnis des Landes, wenn man diese hochtrabende Floskel bemühen will.

Die Affäre Waldheim löste einen öffentlichen Diskurs über Schuld und Verdrängung der Kriegs- und Nachkriegsgeneration aus, dessen Heftigkeit selbst die großen Abrechnungsinszenierungen der 68er in den Schatten stellte und ein für alle Mal mit der identitätsstiftenden nationalen Lebenslüge, Österreich sei vor allem Opfer des Nationalsozialismus gewesen und ergo könnten Österreicher keine Täter sein, aufräumte.

Die Debatte fegte tatsächlich wie ein Sturm über alle politischen Lager hinweg, wirbelte durcheinander, was fest gefügt und unverrückbar schien und ließ ein strukturell verändertes, in wesentlichen Gesellschaftsbereichen erschüttertes Land zurück. Das alles löste weniger die Biographie eines politischen Mitläufers aus, als die Lücke, die Kurt Waldheim ließ (und hieß), deutlicher gesagt: die Lücken, die ihm nachgewiesen wurden und zu deren Auffüllung er sich nun, zwischen verständnislosem Widerwillen und ehrlicher Empörung schwankend, gezwungen sah.

Interpretationen der Waldheim-Affäre

In ihrem Buch 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte stellen die Herausgeber Barbara Tóth und der in der vergangenen Woche im 51. Lebensjahr verstorbene Hubertus Czernin 14 Aufsätze vor, in denen Wissenschaftler, Journalisten und Publizisten ihre Sichtweisen, Darstellungen, Interpretationen der Waldheim-Affäre und ihre Folgerungen daraus vorlegen.

Die meisten der Autoren sind sich einig, dass damals der Grundstein zur Entwicklung dessen gelegt wurde, das man in akzeptabler Verkürzung "kritische Zivilgesellschaft" nennen kann.

Wie vielfältig und unterschiedlich die Blickwinkel sind, mag eine kursorische Auswahl belegen: Der Historiker Walter Manoschek beschreibt die "Generation Waldheim" auch als Entdeckung der Verwerfungen in der eigenen Familiengeschichte. Sein Kollege Gerhard Botz schildert die Affäre als "Widerstreit kollektiver Erinnerungen", Oliver Rathkolb blättert in Waldheims CIA-Akte und fördert erstaunliche Wissensstände diverser Geheimdienste zu erstaunlich frühen Zeitpunkten zu Tage.

Gespenster der Vergangenheit

Barbara Tóth selbst zeichnet die Wahlbewegung und die diversen Interessenstränge nach, die im trotzigen "Jetzt erst recht" einen Mann ins höchste Staatsamt hievten, dessen Umgang mit der eigenen Vergangenheit zum Synonym selektiver Vergesslichkeit einer ganzen Nation wurde. Martin Staudinger gibt unter dem Titel "Der Super-Gaul" ein subtiles Porträt von Kuno Knöbl, der mit seinen Freunden Peter Turrini, Alfred Hrdlicka und Manfred Deix das "Waldheim-Pferd" erfand, das natürlich ein trojanisches ist, aus dem, so Knöbl im O-Ton, "die Gespenster der Vergangenheit kriechen".

Anton Pelinka schreibt über die Polarisierung, die in der Auseinandersetzung stattfand und anhielt, Christa Zöchling über den "gewissen Jargon", der wieder hörbar wurde - etwa im Umfeld eines jungen Politikers namens Jörg Haider, der in diesem Jahr daran ging, Österreich zu verändern.

Das Buch ist, um es kurz und bündig zu sagen, Pflichtlektüre. (DER STANDARD, Printausgabe 17./18.6.2006)