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Der Karl Marx-Hof in Wien Heiligenstadt.

Foto: APA/Barbara Gindl

Vermisst werden Hausbesorger und Kontaktmöglichkeiten.

Seit mehr als einem Dreivierteljahrhundert steht der Karl-Marx-Hof als steinernes Symbol des „Roten Wien“ im bürgerlichen Bezirk Döbling. Über 2000 Menschen bewohnen derzeit die 1255 Wohnungen des mit einer Ausdehnung von 1,2 Kilometern längsten Wohnbaus der Welt. Doch nur ein kleiner Teil der Bewohner ist stolz auf die Geschichte des damals revolutionären Gebäudekomplexes, der durch die bewaffneten Kämpfe im Bürgerkrieg im Februar 1934 zu Berühmtheit gelangte. Der Großteil der heutigen Mieter verschweigt aus Angst vor einem schlechten Ruf den Namen des Baus oder hat gar keinen Bezug mehr zur ursprünglichen Idee des bekanntesten Wiener Gemeindebaus, schildert Elisabeth Strasser vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie. Sie hat im Rahmen eines EU-Projektes die Bedeutung von Staat und Familie für die soziale Absicherung untersucht – und dafür den Karl-Marx-Hof herangezogen.

Solidarische Struktur

Der zwischen 1927 und 1930 errichtete Hof sollte mit modern ausgestatteten Wohnungen nicht nur die misera-ble Wohnsituation bekämpfen, sondern durch zahlreiche soziale Einrichtungen den Gemeinschaftssinn und die Solidarität unter den anfangs 5000 Bewohnern fördern: Waschküchen, Badeanlagen, Kindergärten, medizinische Ambulatorien, Büchereien und Schulen gehören ebenso zur Infrastruktur wie grüne Innenhöfe.

"Die Nachbarschaftshilfe ist gerade bei älteren Menschen, die schon lange hier leben, sehr ausgeprägt – auch wenn viele der 'guten alten Zeit' nachtrauern", nennt Strasser eines der Ergebnisse der Studie, für die zwischen Mai 2005 und Februar 2006 zirka 150 Personen ausführlich interviewt wurden. Obwohl auch die städtischen Einrichtungen in hohem Maß genützt werden, gaben viele Bewohner an, dass die Öffnungszeiten etwa von Kinderbetreuungsstätten nicht optimal wären – besonders für Alleinerzieherinnen.

Kaum traditionelle Familien

Traditionelle Familien sind im Karl-Marx-Hof unterrepräsentiert: 78 Prozent der Haushalte werden von einer oder zwei Personen bestritten, 30 Prozent sind Alleinerziehende. „Die Wohnpolitik muss mit ausreichend kleinen und leistbaren Wohnungen auf die _veränderten Lebensumstände reagieren“, schließt Wohnbaustadtrat Werner Faymann aus der Studie. Zudem müsse der höheren Mobilität Rechnung getragen werden: Die Anzahl der Übersiedler habe sich in Wien in den letzten zehn Jahren auf 44.000 verdoppelt.

Zwei Veränderungen machen den Bewohnern besonders zu schaffen: die Abschaffung der Hausbesorger, die nach einer Gesetzesänderung nicht mehr nachbesetzt werden, und der Anstieg von Nachbarn mit Migrationshintergrund. "Es besteht der Wunsch nach mehr Kommunikation für ein besseres Miteinander", fasst Strasser zusammen.

Insgesamt stellt die Studie, die im Frühjahr 2007, wenn auch die Ergebnisse von sieben weiteren EU-Staaten vorliegen, abgeschlossen wird, dem Leben im Karl-Marx-Hof ein positives Zeugnis aus. Die niedrigen Mieten (rund 360 Euro für 95 Quadratmeter) haben internationale Beachtung gefunden. (DER STANDARD-Printausgabe, 20.06.2006)